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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. I. Band.

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hat die dem neu eröffnete englischen Parlamente vorgelegte irische Landbill
erregt, weil sie den Russen die seltene Gelegenheit bot, einem großen Cultur¬
volk des Westens, ihre Errungenschaften vorzureiten und selbstgefällig darauf
hinzuweisen, daß die Agrarfrage für Rußland ein längst überwundener Stand¬
punkt sei. -- Die irische Landbill hat in der That Zustände zur Voraus-
setzung, welche in dem modernen Europa keine Analogie haben und deren Be¬
handlung im Licht unserer Tage mindestens ebenso schwierig ist. wie die auf
die sociale Frage bezüglichen Probleme. Die Beziehungen zwischen großen
Grundbesitzern und Cultivateurs, Pachtgebern und Pächtern waren in dem
größten Theil Europas schon beim Beginn des Jahrhunderts und unter
sehr viel einfacheren Verhältnissen als den gegenwärtigen geregelt worden. In
Zeiten der Naturalwirthschaft war es möglich gewesen, einfach eine normirte
Ablösung zu decretiren und die geschädigten Privilegirten mit der Berufung
auf die Staatsraison zum Schweigen zu bringen. Dazu kam, daß bei uns
in Deutschland und in den ostfranzösischen Provinzen die Rechtspräsumption
herrschte, das von den Bauern besessene Land sei deren Eigenthum und nur
zu Gunsten der Herren belastet. In Irland wie in Westfrankreich ist dagegen
der Herr der rechtliche Besitzer, hat der Pächter, Meier u. s. w. keinen recht¬
lichen Anspruch an dem von ihm bearbeiteten Grund und Boden, kann und
konnte von einer Ablösung mithin nicht die Rede sein. Bei uns, wo 1807
wie 1848 mit radicalen Ablösungs- und Agrar-Gesetzen in erfolgreichster
Weise vorgegangen worden, wird die abweichende Natur der irischen Besitz¬
verhältnisse in der Regel übersehen oder unterschätzt und zu der juristischen
Schwerfälligkeit der Britten mit den Achseln gezuckt. Und doch hat die radicalste
aller Staatsveränderungen des christlichen Zeitalters, die französische Revolution
von 1789, die analogen Verhältnisse respectirt in West-Frankreich; das Eigen-
thumsrecht der Grundherren an den von meta^ers bewirthschafteten
Ländereien ist durch die berühmte Augustnacht völlig unberührt und der
Hauptsache nach bis heute unverändert geblieben. Daß das tief in der
Creditwirthschaft steckende, von strengen Rechtsbegriffen beherrschte England
die irischen Eigenthumsverhältnisse nicht in Frage stellen, nicht die von John
Stuart Mill beschrittene Bahn beschreiten konnte, versteht sich darum von selbst.--
Ueber die Bright-Gladstone'sche Bill, welche den (in diesen Blättern wiederholt
beleuchteten) agrarischen Mißständen Irlands abhelfen sollen, liegen bis jetzt
völlig erschöpfende Mittheilungen noch nicht vor. Brights vor Jahren ein¬
gebrachter Vorschlag, den Pächtern durch Staatsvorschüsse die Erwerbung
von Grundeigenthum möglich zu machen, ist von der Regierung im Princip
adoptirt worden, eine specielle Formulirung desselben (und -auf diese kommt M
wesentlich an) aber noch nicht erfolgt. Gladstone ist mit dem zweiten Theil
des Gesetzes, der Bill über die Pachtreform, zuerst ins Treffen gegangen und


hat die dem neu eröffnete englischen Parlamente vorgelegte irische Landbill
erregt, weil sie den Russen die seltene Gelegenheit bot, einem großen Cultur¬
volk des Westens, ihre Errungenschaften vorzureiten und selbstgefällig darauf
hinzuweisen, daß die Agrarfrage für Rußland ein längst überwundener Stand¬
punkt sei. — Die irische Landbill hat in der That Zustände zur Voraus-
setzung, welche in dem modernen Europa keine Analogie haben und deren Be¬
handlung im Licht unserer Tage mindestens ebenso schwierig ist. wie die auf
die sociale Frage bezüglichen Probleme. Die Beziehungen zwischen großen
Grundbesitzern und Cultivateurs, Pachtgebern und Pächtern waren in dem
größten Theil Europas schon beim Beginn des Jahrhunderts und unter
sehr viel einfacheren Verhältnissen als den gegenwärtigen geregelt worden. In
Zeiten der Naturalwirthschaft war es möglich gewesen, einfach eine normirte
Ablösung zu decretiren und die geschädigten Privilegirten mit der Berufung
auf die Staatsraison zum Schweigen zu bringen. Dazu kam, daß bei uns
in Deutschland und in den ostfranzösischen Provinzen die Rechtspräsumption
herrschte, das von den Bauern besessene Land sei deren Eigenthum und nur
zu Gunsten der Herren belastet. In Irland wie in Westfrankreich ist dagegen
der Herr der rechtliche Besitzer, hat der Pächter, Meier u. s. w. keinen recht¬
lichen Anspruch an dem von ihm bearbeiteten Grund und Boden, kann und
konnte von einer Ablösung mithin nicht die Rede sein. Bei uns, wo 1807
wie 1848 mit radicalen Ablösungs- und Agrar-Gesetzen in erfolgreichster
Weise vorgegangen worden, wird die abweichende Natur der irischen Besitz¬
verhältnisse in der Regel übersehen oder unterschätzt und zu der juristischen
Schwerfälligkeit der Britten mit den Achseln gezuckt. Und doch hat die radicalste
aller Staatsveränderungen des christlichen Zeitalters, die französische Revolution
von 1789, die analogen Verhältnisse respectirt in West-Frankreich; das Eigen-
thumsrecht der Grundherren an den von meta^ers bewirthschafteten
Ländereien ist durch die berühmte Augustnacht völlig unberührt und der
Hauptsache nach bis heute unverändert geblieben. Daß das tief in der
Creditwirthschaft steckende, von strengen Rechtsbegriffen beherrschte England
die irischen Eigenthumsverhältnisse nicht in Frage stellen, nicht die von John
Stuart Mill beschrittene Bahn beschreiten konnte, versteht sich darum von selbst.—
Ueber die Bright-Gladstone'sche Bill, welche den (in diesen Blättern wiederholt
beleuchteten) agrarischen Mißständen Irlands abhelfen sollen, liegen bis jetzt
völlig erschöpfende Mittheilungen noch nicht vor. Brights vor Jahren ein¬
gebrachter Vorschlag, den Pächtern durch Staatsvorschüsse die Erwerbung
von Grundeigenthum möglich zu machen, ist von der Regierung im Princip
adoptirt worden, eine specielle Formulirung desselben (und -auf diese kommt M
wesentlich an) aber noch nicht erfolgt. Gladstone ist mit dem zweiten Theil
des Gesetzes, der Bill über die Pachtreform, zuerst ins Treffen gegangen und


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[0363] hat die dem neu eröffnete englischen Parlamente vorgelegte irische Landbill erregt, weil sie den Russen die seltene Gelegenheit bot, einem großen Cultur¬ volk des Westens, ihre Errungenschaften vorzureiten und selbstgefällig darauf hinzuweisen, daß die Agrarfrage für Rußland ein längst überwundener Stand¬ punkt sei. — Die irische Landbill hat in der That Zustände zur Voraus- setzung, welche in dem modernen Europa keine Analogie haben und deren Be¬ handlung im Licht unserer Tage mindestens ebenso schwierig ist. wie die auf die sociale Frage bezüglichen Probleme. Die Beziehungen zwischen großen Grundbesitzern und Cultivateurs, Pachtgebern und Pächtern waren in dem größten Theil Europas schon beim Beginn des Jahrhunderts und unter sehr viel einfacheren Verhältnissen als den gegenwärtigen geregelt worden. In Zeiten der Naturalwirthschaft war es möglich gewesen, einfach eine normirte Ablösung zu decretiren und die geschädigten Privilegirten mit der Berufung auf die Staatsraison zum Schweigen zu bringen. Dazu kam, daß bei uns in Deutschland und in den ostfranzösischen Provinzen die Rechtspräsumption herrschte, das von den Bauern besessene Land sei deren Eigenthum und nur zu Gunsten der Herren belastet. In Irland wie in Westfrankreich ist dagegen der Herr der rechtliche Besitzer, hat der Pächter, Meier u. s. w. keinen recht¬ lichen Anspruch an dem von ihm bearbeiteten Grund und Boden, kann und konnte von einer Ablösung mithin nicht die Rede sein. Bei uns, wo 1807 wie 1848 mit radicalen Ablösungs- und Agrar-Gesetzen in erfolgreichster Weise vorgegangen worden, wird die abweichende Natur der irischen Besitz¬ verhältnisse in der Regel übersehen oder unterschätzt und zu der juristischen Schwerfälligkeit der Britten mit den Achseln gezuckt. Und doch hat die radicalste aller Staatsveränderungen des christlichen Zeitalters, die französische Revolution von 1789, die analogen Verhältnisse respectirt in West-Frankreich; das Eigen- thumsrecht der Grundherren an den von meta^ers bewirthschafteten Ländereien ist durch die berühmte Augustnacht völlig unberührt und der Hauptsache nach bis heute unverändert geblieben. Daß das tief in der Creditwirthschaft steckende, von strengen Rechtsbegriffen beherrschte England die irischen Eigenthumsverhältnisse nicht in Frage stellen, nicht die von John Stuart Mill beschrittene Bahn beschreiten konnte, versteht sich darum von selbst.— Ueber die Bright-Gladstone'sche Bill, welche den (in diesen Blättern wiederholt beleuchteten) agrarischen Mißständen Irlands abhelfen sollen, liegen bis jetzt völlig erschöpfende Mittheilungen noch nicht vor. Brights vor Jahren ein¬ gebrachter Vorschlag, den Pächtern durch Staatsvorschüsse die Erwerbung von Grundeigenthum möglich zu machen, ist von der Regierung im Princip adoptirt worden, eine specielle Formulirung desselben (und -auf diese kommt M wesentlich an) aber noch nicht erfolgt. Gladstone ist mit dem zweiten Theil des Gesetzes, der Bill über die Pachtreform, zuerst ins Treffen gegangen und

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123087/363>, abgerufen am 29.06.2024.