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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. I. Band.

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westlichen Provinzen athmet freier, als in den letzten Jahren. Darum ist
die officielle Nivellirungs- und Russificirungsmaschine freilich noch nicht in Stocken
gerathen: allein Im abgelaufenen Monat sind 115 im ehemaligen Königreich
belegene Städte zu Dörfern degradirt worden. Aber in der wichtigsten der für
die alt-polnischen Länder schwebenden Fragen, der Entscheidung darüber, in
welcher Sprache die katholischen Gottesdienste gehalten werden sollen, ist es
zu einem Abschluß immer noch nicht gekommen. Stärker als die Staats¬
raison, welcher an der Auflösung des Bundes zwischen Polonismus und Ka¬
tholicismus gelegen sein muß, sind die nationale Furcht vor Eindrang rö¬
mischer Propaganda in das russische Volk und das nationale Vorurtheil,
welches nur der orthodoxen Kirche in russischer Sprache Gottesdienst zu ce-
leberiren gestattet. Die Moskau'sche Zeitung mußte neulich constcitiren. daß
die Aengstlichkeit des spröd die Uebersetzungen protestantischer und katholischer
Andachtsbücher in's Russische erst verhindert, dann um alle Brauchbarkeit ge¬
bracht habe, indem bald die Titel, bald der Inhalt orthodox gemodelt wor¬
den. Dieser eine Umstand ist für die Zukunft der lithauischen und wei߬
russischen Länder entscheidend, denn wenn der katholische Gottesdienst in den¬
selben polnisch, die Identität von Orthodoxie und Russenthum aufrecht er¬
halten bleibt, ist an eine Russificirung derselben nicht zu denken. -- Die rus¬
sische Regierung ist während des abgelaufenen Monats nicht nur mit Prü¬
fung zahlloser Gesuche um neue Eisenbahnconcessionen und mit Untersuchung
der Tscherkessow-Netschajew'schen Verschwörung beschäftigt gewesen, sondern
auch mit der Pomulgation und Ausarbeitung wichtiger neuer Gesetze. Zwei
derselben haben es mit den Finanzen zu thun gehabt. Unbekümmert um die
zunehmende Entwerthung der Valuta und den traurigen Stand des Wechsel¬
courses behauptet der Budget-Voranschlag pro 1870, "die Einnahmen seien im
Wachsen und die Finanzen erwerben sich eine dauernde Grundlage". Ob¬
gleich der bekannte Artikel des "Economiste" den Gegenbeweis ziemlich exact
geliefert hat, sind die europäischen Börsen in der Laune gewesen, die neue,
zum Behuf von Eisenbahnbauten aufgenommene Anleihe außerordentlich gün¬
stig aufzunehmen und binnen weniger Tage reichlich zu decken. -- Die übri¬
gen neuen Gesetze beziehen sich auf Fragen der inneren Organisation: den
bisher auf die ehemals polnischen Länder beschränkt gewesenen Juden ist die
Uebersiedelung in das innere Rußland unter gewissen Bedingungen gestattet,
der Uebertritt des Untermilitärs in das Officiercorps erleichtert worden,
endlich dem Reichsrath ein Gesetzentwurf vorgelegt, der eine Umgestaltung der
Provinzialverwaltung herbeiführen und dem Ministerium des Innern größe¬
ren Einfluß auf dieselbe sichern soll.

Mit -den Fragen der auswärtigen Politik ist man im europäischen Osten
sehr viel weniger beschäftigt gewesen als im Westen. Das meiste Interesse


westlichen Provinzen athmet freier, als in den letzten Jahren. Darum ist
die officielle Nivellirungs- und Russificirungsmaschine freilich noch nicht in Stocken
gerathen: allein Im abgelaufenen Monat sind 115 im ehemaligen Königreich
belegene Städte zu Dörfern degradirt worden. Aber in der wichtigsten der für
die alt-polnischen Länder schwebenden Fragen, der Entscheidung darüber, in
welcher Sprache die katholischen Gottesdienste gehalten werden sollen, ist es
zu einem Abschluß immer noch nicht gekommen. Stärker als die Staats¬
raison, welcher an der Auflösung des Bundes zwischen Polonismus und Ka¬
tholicismus gelegen sein muß, sind die nationale Furcht vor Eindrang rö¬
mischer Propaganda in das russische Volk und das nationale Vorurtheil,
welches nur der orthodoxen Kirche in russischer Sprache Gottesdienst zu ce-
leberiren gestattet. Die Moskau'sche Zeitung mußte neulich constcitiren. daß
die Aengstlichkeit des spröd die Uebersetzungen protestantischer und katholischer
Andachtsbücher in's Russische erst verhindert, dann um alle Brauchbarkeit ge¬
bracht habe, indem bald die Titel, bald der Inhalt orthodox gemodelt wor¬
den. Dieser eine Umstand ist für die Zukunft der lithauischen und wei߬
russischen Länder entscheidend, denn wenn der katholische Gottesdienst in den¬
selben polnisch, die Identität von Orthodoxie und Russenthum aufrecht er¬
halten bleibt, ist an eine Russificirung derselben nicht zu denken. — Die rus¬
sische Regierung ist während des abgelaufenen Monats nicht nur mit Prü¬
fung zahlloser Gesuche um neue Eisenbahnconcessionen und mit Untersuchung
der Tscherkessow-Netschajew'schen Verschwörung beschäftigt gewesen, sondern
auch mit der Pomulgation und Ausarbeitung wichtiger neuer Gesetze. Zwei
derselben haben es mit den Finanzen zu thun gehabt. Unbekümmert um die
zunehmende Entwerthung der Valuta und den traurigen Stand des Wechsel¬
courses behauptet der Budget-Voranschlag pro 1870, „die Einnahmen seien im
Wachsen und die Finanzen erwerben sich eine dauernde Grundlage". Ob¬
gleich der bekannte Artikel des „Economiste" den Gegenbeweis ziemlich exact
geliefert hat, sind die europäischen Börsen in der Laune gewesen, die neue,
zum Behuf von Eisenbahnbauten aufgenommene Anleihe außerordentlich gün¬
stig aufzunehmen und binnen weniger Tage reichlich zu decken. — Die übri¬
gen neuen Gesetze beziehen sich auf Fragen der inneren Organisation: den
bisher auf die ehemals polnischen Länder beschränkt gewesenen Juden ist die
Uebersiedelung in das innere Rußland unter gewissen Bedingungen gestattet,
der Uebertritt des Untermilitärs in das Officiercorps erleichtert worden,
endlich dem Reichsrath ein Gesetzentwurf vorgelegt, der eine Umgestaltung der
Provinzialverwaltung herbeiführen und dem Ministerium des Innern größe¬
ren Einfluß auf dieselbe sichern soll.

Mit -den Fragen der auswärtigen Politik ist man im europäischen Osten
sehr viel weniger beschäftigt gewesen als im Westen. Das meiste Interesse


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[0362] westlichen Provinzen athmet freier, als in den letzten Jahren. Darum ist die officielle Nivellirungs- und Russificirungsmaschine freilich noch nicht in Stocken gerathen: allein Im abgelaufenen Monat sind 115 im ehemaligen Königreich belegene Städte zu Dörfern degradirt worden. Aber in der wichtigsten der für die alt-polnischen Länder schwebenden Fragen, der Entscheidung darüber, in welcher Sprache die katholischen Gottesdienste gehalten werden sollen, ist es zu einem Abschluß immer noch nicht gekommen. Stärker als die Staats¬ raison, welcher an der Auflösung des Bundes zwischen Polonismus und Ka¬ tholicismus gelegen sein muß, sind die nationale Furcht vor Eindrang rö¬ mischer Propaganda in das russische Volk und das nationale Vorurtheil, welches nur der orthodoxen Kirche in russischer Sprache Gottesdienst zu ce- leberiren gestattet. Die Moskau'sche Zeitung mußte neulich constcitiren. daß die Aengstlichkeit des spröd die Uebersetzungen protestantischer und katholischer Andachtsbücher in's Russische erst verhindert, dann um alle Brauchbarkeit ge¬ bracht habe, indem bald die Titel, bald der Inhalt orthodox gemodelt wor¬ den. Dieser eine Umstand ist für die Zukunft der lithauischen und wei߬ russischen Länder entscheidend, denn wenn der katholische Gottesdienst in den¬ selben polnisch, die Identität von Orthodoxie und Russenthum aufrecht er¬ halten bleibt, ist an eine Russificirung derselben nicht zu denken. — Die rus¬ sische Regierung ist während des abgelaufenen Monats nicht nur mit Prü¬ fung zahlloser Gesuche um neue Eisenbahnconcessionen und mit Untersuchung der Tscherkessow-Netschajew'schen Verschwörung beschäftigt gewesen, sondern auch mit der Pomulgation und Ausarbeitung wichtiger neuer Gesetze. Zwei derselben haben es mit den Finanzen zu thun gehabt. Unbekümmert um die zunehmende Entwerthung der Valuta und den traurigen Stand des Wechsel¬ courses behauptet der Budget-Voranschlag pro 1870, „die Einnahmen seien im Wachsen und die Finanzen erwerben sich eine dauernde Grundlage". Ob¬ gleich der bekannte Artikel des „Economiste" den Gegenbeweis ziemlich exact geliefert hat, sind die europäischen Börsen in der Laune gewesen, die neue, zum Behuf von Eisenbahnbauten aufgenommene Anleihe außerordentlich gün¬ stig aufzunehmen und binnen weniger Tage reichlich zu decken. — Die übri¬ gen neuen Gesetze beziehen sich auf Fragen der inneren Organisation: den bisher auf die ehemals polnischen Länder beschränkt gewesenen Juden ist die Uebersiedelung in das innere Rußland unter gewissen Bedingungen gestattet, der Uebertritt des Untermilitärs in das Officiercorps erleichtert worden, endlich dem Reichsrath ein Gesetzentwurf vorgelegt, der eine Umgestaltung der Provinzialverwaltung herbeiführen und dem Ministerium des Innern größe¬ ren Einfluß auf dieselbe sichern soll. Mit -den Fragen der auswärtigen Politik ist man im europäischen Osten sehr viel weniger beschäftigt gewesen als im Westen. Das meiste Interesse

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123087/362>, abgerufen am 28.09.2024.