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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. I. Band.

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um nicht in Vergessenheit zu gerathen, es läßt sich somit zehn gegen eins
wetten, daß er sein Mandat mit Pomp niederlegen und damit die Regierung
zwingen wird eine Neuwahl auszuschreiben. Wie bedenklich aber die Er¬
regung ist, welche eine solche im jetzigen Augenblick in der Hauptstadt verursachen
muß, liegt auf der Hand und ebenso, daß sicher Rochefort wieder gewählt
werden und demgemäß mit neuem demokratischen Heiligenschein umgeben er¬
scheinen wird.

Nicht weniger unklug war die Art der Verhaftung, welche zu Unruhen
Anlaß gab, die, obwohl an sich nicht bedeutend, sehr unliebsame Folgen
hatten. Am nächstfolgenden Morgen waren an 500 Personen arretirt, das
muß ein lähmendes Gefühl der Unsicherheit geben, Handel und Wandel
stören, Fremde wegtreiben, mag auch die Unfehlbarkeit der Chassepöts noch
so feststehen. Die Demokraten sind wüthend und schüren die Erbitterung in
den unteren Volksclassen, die conservativen Classen sind beunruhigt und
meinen schon, das persönliche Regiment habe doch wenigstens Ruhe gesichert.
Unter diesen conservativen Classen steht natürlich die Schicht voran, welche
durch die Rechte im Lorps leZislatit vertreten wird, aber noch bedeutsamer
ist die Schicht, welche man herkömmlich 1a Milo dourssoisie nennt. Diese
ist an sich weder orleanistisch noch bonapartistisch, sie wünscht Ruhe, fürchtet
vor allem die Revolution, aber wünscht ein gemäßigt liberales Regiment
und hatte auf Ollivier dafür gezählt. Gerade diese Classe nun macht der¬
selbe durch seine Mißgriff" kopfscheu, sie tritt noch nicht offen gegen ihn aus,
aber sie stützt ihn nicht mehr. Und doch zeigt die neuere französische Geschichte,
daß eine Regierung sich nur dann halten kann, wenn dieser kleine Bürger¬
stand ihr wenigstens eine passive Unterstützung gewährt.

Die nächste Folge ist, daß die Durchführung der Wahlreform sehr er¬
schwert ist. Wir wiesen schon früher (Das französische Ministerium Ur. 4,
S. 127) darauf hin, daß hierin der kritische Punkt für die Regierung liege,
daß die meisten Mitglieder derselben sie früher als unumgänglich nothwendig
gefordert, daß aber Ollivier's Mitwirkung bei Bestätigung der faulen offi-
ciellen Wahlen darauf schließen lasse, daß er die Sache jedenfalls verschieben
wolle. Seine neuesten Erklärungen haben diese Annahme zur Gewißheit ge¬
macht, als Picard und Favre die Auflösung der Kammer auss Tapet brachten,
welche nur eine Majorität des vorigen Regimes repräsentire, erwiderte
Ollivier, daß die Vertretung des Landes in der Majorität dieses Hauses
liege, welche von der öffentlichen Meinung aufgeklärt und unterstützt werde.
Eine Minorität, welche sich das ausschließliche Recht zuschreiben wolle, im
Namen der Nation zu sprechen, verfahre weder constitutionell noch mit der
schuldigen Achtung für ihre College". Was die Auslösung betreffe, so be¬
greife er recht gut, daß diejenigen davon sprächen, deren Politik darin be-


um nicht in Vergessenheit zu gerathen, es läßt sich somit zehn gegen eins
wetten, daß er sein Mandat mit Pomp niederlegen und damit die Regierung
zwingen wird eine Neuwahl auszuschreiben. Wie bedenklich aber die Er¬
regung ist, welche eine solche im jetzigen Augenblick in der Hauptstadt verursachen
muß, liegt auf der Hand und ebenso, daß sicher Rochefort wieder gewählt
werden und demgemäß mit neuem demokratischen Heiligenschein umgeben er¬
scheinen wird.

Nicht weniger unklug war die Art der Verhaftung, welche zu Unruhen
Anlaß gab, die, obwohl an sich nicht bedeutend, sehr unliebsame Folgen
hatten. Am nächstfolgenden Morgen waren an 500 Personen arretirt, das
muß ein lähmendes Gefühl der Unsicherheit geben, Handel und Wandel
stören, Fremde wegtreiben, mag auch die Unfehlbarkeit der Chassepöts noch
so feststehen. Die Demokraten sind wüthend und schüren die Erbitterung in
den unteren Volksclassen, die conservativen Classen sind beunruhigt und
meinen schon, das persönliche Regiment habe doch wenigstens Ruhe gesichert.
Unter diesen conservativen Classen steht natürlich die Schicht voran, welche
durch die Rechte im Lorps leZislatit vertreten wird, aber noch bedeutsamer
ist die Schicht, welche man herkömmlich 1a Milo dourssoisie nennt. Diese
ist an sich weder orleanistisch noch bonapartistisch, sie wünscht Ruhe, fürchtet
vor allem die Revolution, aber wünscht ein gemäßigt liberales Regiment
und hatte auf Ollivier dafür gezählt. Gerade diese Classe nun macht der¬
selbe durch seine Mißgriff« kopfscheu, sie tritt noch nicht offen gegen ihn aus,
aber sie stützt ihn nicht mehr. Und doch zeigt die neuere französische Geschichte,
daß eine Regierung sich nur dann halten kann, wenn dieser kleine Bürger¬
stand ihr wenigstens eine passive Unterstützung gewährt.

Die nächste Folge ist, daß die Durchführung der Wahlreform sehr er¬
schwert ist. Wir wiesen schon früher (Das französische Ministerium Ur. 4,
S. 127) darauf hin, daß hierin der kritische Punkt für die Regierung liege,
daß die meisten Mitglieder derselben sie früher als unumgänglich nothwendig
gefordert, daß aber Ollivier's Mitwirkung bei Bestätigung der faulen offi-
ciellen Wahlen darauf schließen lasse, daß er die Sache jedenfalls verschieben
wolle. Seine neuesten Erklärungen haben diese Annahme zur Gewißheit ge¬
macht, als Picard und Favre die Auflösung der Kammer auss Tapet brachten,
welche nur eine Majorität des vorigen Regimes repräsentire, erwiderte
Ollivier, daß die Vertretung des Landes in der Majorität dieses Hauses
liege, welche von der öffentlichen Meinung aufgeklärt und unterstützt werde.
Eine Minorität, welche sich das ausschließliche Recht zuschreiben wolle, im
Namen der Nation zu sprechen, verfahre weder constitutionell noch mit der
schuldigen Achtung für ihre College». Was die Auslösung betreffe, so be¬
greife er recht gut, daß diejenigen davon sprächen, deren Politik darin be-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123087/342>, abgerufen am 29.06.2024.