Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

stehe, die Wiederaufnahme der Geschäfte zu verhindern und das Vertrauen
im Lande nicht aufkommen zu lassen. (Stürmische Unterbrechungen.) Aber
er begreife nicht, wie die Männer der Opposition, welche sich stets gegen eine
reactionäre Politik verwahrt und dies auch neuerdings thatsächlich bewiesen,
einer Forderung zustimmen könnten, welche die Verleugnung und die Satire
ihrer eigenen wie der ministeriellen Politik sein würde. Die Regierung wolle
auf der eingeschlagenen liberalen Bahn verharren, aber Bedingung dafür sei
Ruhe auf der Straße und Achtung vor der Majorität der Kammer. Wenn
man unaufhörlich die Entscheidungen des allgemeinen Stimmrechts anfechte,
so ziehe man der Gesellschaft den Boden unter den Füßen weg.

Mit dieser Erklärung hat Ollivier sich allerdings aufs neue den Dank
der Rechten und des kaiserlichen Leibjournalisten Element Duvernois ver¬
dient, aber schwerlich seine Stellung befestigt. Das Verlangen nach baldiger
Auflösung des gesetzgebenden Körpers wird immer allgemeiner, selbst die un¬
abhängigen Blätter, welche die Regierung zu stützen wünschen, stimmen in
dies Verlangen ein und ein so gemäßigter Mann wie P>6oost-Paradol erhebt
im Journal des De'half offen seine Stimme dafür. Die jetzige Kammer, ein
Ueberbleibsel des alten Systems, dürfe nur fortbestehen, bis das Budget
votirt und ein neues Wahlgesetz geschaffen sei; noch ein Jahr zu warten in
so bewegter Zeit und Angesichts einer Versammlung, welche so zusammen¬
gesetzt sei, daß sie zugleich materiell das Ministerium stürzen oder es durch
hingebende Unterstützung schwächen könne, sei eine Unklugheit, welche der An¬
maßung verwandt scheine. -- Das ist vollkommen richtig; wie die Dinge
liegen, fühlt keine der Parteien in der Kammer sich recht an ihrer Stelle.
Allerdings verfügt das Ministerium bis jetzt über eine starke Majorität, aber
wie setzt sich dieselbe zusammen? Zunächst aus der Rechten, welche die Ma߬
regeln der Minister mit unverkennbarem Mißtrauen verfolgt und strebt einen
Theil des Cabinets zu sich herüberzuziehen, die Mitglieder des linken Cen¬
trums aber durch ihre Candidaten zu ersetzen. Sodann aus den beiden
Centren, von welchen das linke seine Verstimmung offen zeigt und sich ernst¬
lich über die Zögerung beklagt, welche die Regierung bei der Verwirklichung
ihres Programms eintreten läßt. Gradezu erbittert aber ist die Linke, der
die Majorität durch die Tagesordnung die Mittel abschneidet, liberale Ge¬
setzentwürfe vorzubringen, und die doch fühlt, daß ein offener Kampf gegen
das Ministerium nur zum Vortheil der Rechten ausschlagen werde; daher
trotz großer Majoritäten allgemeine Verstimmung, welche Ollivier durch seine
Erklärung gegen die Auslösung nur vermehrt haben wird.




Grwjboten I. 1870.4L

stehe, die Wiederaufnahme der Geschäfte zu verhindern und das Vertrauen
im Lande nicht aufkommen zu lassen. (Stürmische Unterbrechungen.) Aber
er begreife nicht, wie die Männer der Opposition, welche sich stets gegen eine
reactionäre Politik verwahrt und dies auch neuerdings thatsächlich bewiesen,
einer Forderung zustimmen könnten, welche die Verleugnung und die Satire
ihrer eigenen wie der ministeriellen Politik sein würde. Die Regierung wolle
auf der eingeschlagenen liberalen Bahn verharren, aber Bedingung dafür sei
Ruhe auf der Straße und Achtung vor der Majorität der Kammer. Wenn
man unaufhörlich die Entscheidungen des allgemeinen Stimmrechts anfechte,
so ziehe man der Gesellschaft den Boden unter den Füßen weg.

Mit dieser Erklärung hat Ollivier sich allerdings aufs neue den Dank
der Rechten und des kaiserlichen Leibjournalisten Element Duvernois ver¬
dient, aber schwerlich seine Stellung befestigt. Das Verlangen nach baldiger
Auflösung des gesetzgebenden Körpers wird immer allgemeiner, selbst die un¬
abhängigen Blätter, welche die Regierung zu stützen wünschen, stimmen in
dies Verlangen ein und ein so gemäßigter Mann wie P>6oost-Paradol erhebt
im Journal des De'half offen seine Stimme dafür. Die jetzige Kammer, ein
Ueberbleibsel des alten Systems, dürfe nur fortbestehen, bis das Budget
votirt und ein neues Wahlgesetz geschaffen sei; noch ein Jahr zu warten in
so bewegter Zeit und Angesichts einer Versammlung, welche so zusammen¬
gesetzt sei, daß sie zugleich materiell das Ministerium stürzen oder es durch
hingebende Unterstützung schwächen könne, sei eine Unklugheit, welche der An¬
maßung verwandt scheine. — Das ist vollkommen richtig; wie die Dinge
liegen, fühlt keine der Parteien in der Kammer sich recht an ihrer Stelle.
Allerdings verfügt das Ministerium bis jetzt über eine starke Majorität, aber
wie setzt sich dieselbe zusammen? Zunächst aus der Rechten, welche die Ma߬
regeln der Minister mit unverkennbarem Mißtrauen verfolgt und strebt einen
Theil des Cabinets zu sich herüberzuziehen, die Mitglieder des linken Cen¬
trums aber durch ihre Candidaten zu ersetzen. Sodann aus den beiden
Centren, von welchen das linke seine Verstimmung offen zeigt und sich ernst¬
lich über die Zögerung beklagt, welche die Regierung bei der Verwirklichung
ihres Programms eintreten läßt. Gradezu erbittert aber ist die Linke, der
die Majorität durch die Tagesordnung die Mittel abschneidet, liberale Ge¬
setzentwürfe vorzubringen, und die doch fühlt, daß ein offener Kampf gegen
das Ministerium nur zum Vortheil der Rechten ausschlagen werde; daher
trotz großer Majoritäten allgemeine Verstimmung, welche Ollivier durch seine
Erklärung gegen die Auslösung nur vermehrt haben wird.




Grwjboten I. 1870.4L
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0343" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/123431"/>
          <p xml:id="ID_949" prev="#ID_948"> stehe, die Wiederaufnahme der Geschäfte zu verhindern und das Vertrauen<lb/>
im Lande nicht aufkommen zu lassen. (Stürmische Unterbrechungen.) Aber<lb/>
er begreife nicht, wie die Männer der Opposition, welche sich stets gegen eine<lb/>
reactionäre Politik verwahrt und dies auch neuerdings thatsächlich bewiesen,<lb/>
einer Forderung zustimmen könnten, welche die Verleugnung und die Satire<lb/>
ihrer eigenen wie der ministeriellen Politik sein würde. Die Regierung wolle<lb/>
auf der eingeschlagenen liberalen Bahn verharren, aber Bedingung dafür sei<lb/>
Ruhe auf der Straße und Achtung vor der Majorität der Kammer. Wenn<lb/>
man unaufhörlich die Entscheidungen des allgemeinen Stimmrechts anfechte,<lb/>
so ziehe man der Gesellschaft den Boden unter den Füßen weg.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_950"> Mit dieser Erklärung hat Ollivier sich allerdings aufs neue den Dank<lb/>
der Rechten und des kaiserlichen Leibjournalisten Element Duvernois ver¬<lb/>
dient, aber schwerlich seine Stellung befestigt.  Das Verlangen nach baldiger<lb/>
Auflösung des gesetzgebenden Körpers wird immer allgemeiner, selbst die un¬<lb/>
abhängigen Blätter, welche die Regierung zu stützen wünschen, stimmen in<lb/>
dies Verlangen ein und ein so gemäßigter Mann wie P&gt;6oost-Paradol erhebt<lb/>
im Journal des De'half offen seine Stimme dafür. Die jetzige Kammer, ein<lb/>
Ueberbleibsel des alten Systems, dürfe nur fortbestehen, bis das Budget<lb/>
votirt und ein neues Wahlgesetz geschaffen sei; noch ein Jahr zu warten in<lb/>
so bewegter Zeit und Angesichts einer Versammlung, welche so zusammen¬<lb/>
gesetzt sei, daß sie zugleich materiell das Ministerium stürzen oder es durch<lb/>
hingebende Unterstützung schwächen könne, sei eine Unklugheit, welche der An¬<lb/>
maßung verwandt scheine. &#x2014; Das ist vollkommen richtig; wie die Dinge<lb/>
liegen, fühlt keine der Parteien in der Kammer sich recht an ihrer Stelle.<lb/>
Allerdings verfügt das Ministerium bis jetzt über eine starke Majorität, aber<lb/>
wie setzt sich dieselbe zusammen? Zunächst aus der Rechten, welche die Ma߬<lb/>
regeln der Minister mit unverkennbarem Mißtrauen verfolgt und strebt einen<lb/>
Theil des Cabinets zu sich herüberzuziehen, die Mitglieder des linken Cen¬<lb/>
trums aber durch ihre Candidaten zu ersetzen.  Sodann aus den beiden<lb/>
Centren, von welchen das linke seine Verstimmung offen zeigt und sich ernst¬<lb/>
lich über die Zögerung beklagt, welche die Regierung bei der Verwirklichung<lb/>
ihres Programms eintreten läßt.  Gradezu erbittert aber ist die Linke, der<lb/>
die Majorität durch die Tagesordnung die Mittel abschneidet, liberale Ge¬<lb/>
setzentwürfe vorzubringen, und die doch fühlt, daß ein offener Kampf gegen<lb/>
das Ministerium nur zum Vortheil der Rechten ausschlagen werde; daher<lb/>
trotz großer Majoritäten allgemeine Verstimmung, welche Ollivier durch seine<lb/>
Erklärung gegen die Auslösung nur vermehrt haben wird.</p><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> Grwjboten I. 1870.4L</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0343] stehe, die Wiederaufnahme der Geschäfte zu verhindern und das Vertrauen im Lande nicht aufkommen zu lassen. (Stürmische Unterbrechungen.) Aber er begreife nicht, wie die Männer der Opposition, welche sich stets gegen eine reactionäre Politik verwahrt und dies auch neuerdings thatsächlich bewiesen, einer Forderung zustimmen könnten, welche die Verleugnung und die Satire ihrer eigenen wie der ministeriellen Politik sein würde. Die Regierung wolle auf der eingeschlagenen liberalen Bahn verharren, aber Bedingung dafür sei Ruhe auf der Straße und Achtung vor der Majorität der Kammer. Wenn man unaufhörlich die Entscheidungen des allgemeinen Stimmrechts anfechte, so ziehe man der Gesellschaft den Boden unter den Füßen weg. Mit dieser Erklärung hat Ollivier sich allerdings aufs neue den Dank der Rechten und des kaiserlichen Leibjournalisten Element Duvernois ver¬ dient, aber schwerlich seine Stellung befestigt. Das Verlangen nach baldiger Auflösung des gesetzgebenden Körpers wird immer allgemeiner, selbst die un¬ abhängigen Blätter, welche die Regierung zu stützen wünschen, stimmen in dies Verlangen ein und ein so gemäßigter Mann wie P>6oost-Paradol erhebt im Journal des De'half offen seine Stimme dafür. Die jetzige Kammer, ein Ueberbleibsel des alten Systems, dürfe nur fortbestehen, bis das Budget votirt und ein neues Wahlgesetz geschaffen sei; noch ein Jahr zu warten in so bewegter Zeit und Angesichts einer Versammlung, welche so zusammen¬ gesetzt sei, daß sie zugleich materiell das Ministerium stürzen oder es durch hingebende Unterstützung schwächen könne, sei eine Unklugheit, welche der An¬ maßung verwandt scheine. — Das ist vollkommen richtig; wie die Dinge liegen, fühlt keine der Parteien in der Kammer sich recht an ihrer Stelle. Allerdings verfügt das Ministerium bis jetzt über eine starke Majorität, aber wie setzt sich dieselbe zusammen? Zunächst aus der Rechten, welche die Ma߬ regeln der Minister mit unverkennbarem Mißtrauen verfolgt und strebt einen Theil des Cabinets zu sich herüberzuziehen, die Mitglieder des linken Cen¬ trums aber durch ihre Candidaten zu ersetzen. Sodann aus den beiden Centren, von welchen das linke seine Verstimmung offen zeigt und sich ernst¬ lich über die Zögerung beklagt, welche die Regierung bei der Verwirklichung ihres Programms eintreten läßt. Gradezu erbittert aber ist die Linke, der die Majorität durch die Tagesordnung die Mittel abschneidet, liberale Ge¬ setzentwürfe vorzubringen, und die doch fühlt, daß ein offener Kampf gegen das Ministerium nur zum Vortheil der Rechten ausschlagen werde; daher trotz großer Majoritäten allgemeine Verstimmung, welche Ollivier durch seine Erklärung gegen die Auslösung nur vermehrt haben wird. Grwjboten I. 1870.4L

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123087
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123087/343
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123087/343>, abgerufen am 28.09.2024.