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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. I. Band.

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später, wenn auch in mildester und am wenigsten acuter Form derselben
Völkerkrankheit zu unterliegen, welche Heinrich v. Treitschke in dem "Bona¬
partismus" mit so großer Wahrheit geschildert hat. Schließlich ist die
Menschennatur in den Grundbedingungen ihres Seins in der modernen Welt
überall dieselbe, und es walten allgemeine Grundgesetze über das Werden
und Vergehen der Völker. Diesen Royalismus der Nation zu geben, zu er¬
halten und zu steigern ist aber vor Allem Aufgabe der Herrscher selbst.


O. M.


CMivicr's Fortgang mW Aussichten.

Ollivier's unglückliche Behandlung der Rochefort-Affaire bietet einen
neuen Beweis für den Satz, daß politische Fehler wie Lügen stets eine zahl¬
reiche Nachkommenschaft haben. Kein Verständiger hatte Sympathie sür den
kläglichen Agitator, der sich allein durch persönliche Jnvectiven einen ephe¬
meren Ruf gemacht, die größte Strafe seitens der liberalen Minister war, ihn
zu ignoriren und ihn zur verdienten Bedeutungslosigkeit sinken zu lassen,
indem es ihm freien Raum gab sich in der Kammer lächerlich zu machen,
wozu er auf dem besten Wege war. Statt dessen wollte Ollivier zeigen,
daß auch eine liberale Regierung im Stande sei, dem Gesetz Nachdruck zu
leihen und bestand auf seiner Verfolgung wegen eines Artikels, wie solche
unter Forcade vielfach unbehelligt erschienen waren. Damit machte er den
schwachen Demagogen zum politischen Märtyrer und setzte sich der Anklage
seiner Gegner aus, daß er vor allem seinen Verpflichtungen gegen den Kaiser
nachkommen wolle. Wir halten diese Anklage für unbegründet; wenn Napo¬
leon Ollivier seine Stellung erschweren wollte, so hätte er wahrscheinlich
eher von ihm verlangt, daß er die eompromittirtett Werkzeuge der persön¬
lichen Regierung vertheidige, als daß er deren erbitterte Feinde verfolge.
Aber die Folgen bleiben für den Minister gleich unglücklich. Nachdem nun
einmal die Verurtheilung Rochefort's erfolgt war, so hätte die Klugheit er-
fordert die Vollstreckung des Urtheils bis zum Schluß der Session zu ver-
schieben, umsomehr als dies ganz der Praxis gemäß gewesen wäre, wonach
früher die Regierung den wegen politischen Vergehen Verurtheilten erlaubte,
selbst den Zeitpunkt zur Verbüßung ihrer Haft zu wählen. Damit hätte man
die Möglichkeit einer Neuwahl in Paris vollkommen beseitigt. Allerdings hat
das Urtheil Rochefort's Mandat als Abgeordneter nicht cassirt, aber er ver-
steht das Handwerk des Demagogen und weiß, daß er sich stets rühren muß


später, wenn auch in mildester und am wenigsten acuter Form derselben
Völkerkrankheit zu unterliegen, welche Heinrich v. Treitschke in dem „Bona¬
partismus" mit so großer Wahrheit geschildert hat. Schließlich ist die
Menschennatur in den Grundbedingungen ihres Seins in der modernen Welt
überall dieselbe, und es walten allgemeine Grundgesetze über das Werden
und Vergehen der Völker. Diesen Royalismus der Nation zu geben, zu er¬
halten und zu steigern ist aber vor Allem Aufgabe der Herrscher selbst.


O. M.


CMivicr's Fortgang mW Aussichten.

Ollivier's unglückliche Behandlung der Rochefort-Affaire bietet einen
neuen Beweis für den Satz, daß politische Fehler wie Lügen stets eine zahl¬
reiche Nachkommenschaft haben. Kein Verständiger hatte Sympathie sür den
kläglichen Agitator, der sich allein durch persönliche Jnvectiven einen ephe¬
meren Ruf gemacht, die größte Strafe seitens der liberalen Minister war, ihn
zu ignoriren und ihn zur verdienten Bedeutungslosigkeit sinken zu lassen,
indem es ihm freien Raum gab sich in der Kammer lächerlich zu machen,
wozu er auf dem besten Wege war. Statt dessen wollte Ollivier zeigen,
daß auch eine liberale Regierung im Stande sei, dem Gesetz Nachdruck zu
leihen und bestand auf seiner Verfolgung wegen eines Artikels, wie solche
unter Forcade vielfach unbehelligt erschienen waren. Damit machte er den
schwachen Demagogen zum politischen Märtyrer und setzte sich der Anklage
seiner Gegner aus, daß er vor allem seinen Verpflichtungen gegen den Kaiser
nachkommen wolle. Wir halten diese Anklage für unbegründet; wenn Napo¬
leon Ollivier seine Stellung erschweren wollte, so hätte er wahrscheinlich
eher von ihm verlangt, daß er die eompromittirtett Werkzeuge der persön¬
lichen Regierung vertheidige, als daß er deren erbitterte Feinde verfolge.
Aber die Folgen bleiben für den Minister gleich unglücklich. Nachdem nun
einmal die Verurtheilung Rochefort's erfolgt war, so hätte die Klugheit er-
fordert die Vollstreckung des Urtheils bis zum Schluß der Session zu ver-
schieben, umsomehr als dies ganz der Praxis gemäß gewesen wäre, wonach
früher die Regierung den wegen politischen Vergehen Verurtheilten erlaubte,
selbst den Zeitpunkt zur Verbüßung ihrer Haft zu wählen. Damit hätte man
die Möglichkeit einer Neuwahl in Paris vollkommen beseitigt. Allerdings hat
das Urtheil Rochefort's Mandat als Abgeordneter nicht cassirt, aber er ver-
steht das Handwerk des Demagogen und weiß, daß er sich stets rühren muß


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[0341] später, wenn auch in mildester und am wenigsten acuter Form derselben Völkerkrankheit zu unterliegen, welche Heinrich v. Treitschke in dem „Bona¬ partismus" mit so großer Wahrheit geschildert hat. Schließlich ist die Menschennatur in den Grundbedingungen ihres Seins in der modernen Welt überall dieselbe, und es walten allgemeine Grundgesetze über das Werden und Vergehen der Völker. Diesen Royalismus der Nation zu geben, zu er¬ halten und zu steigern ist aber vor Allem Aufgabe der Herrscher selbst. O. M. CMivicr's Fortgang mW Aussichten. Ollivier's unglückliche Behandlung der Rochefort-Affaire bietet einen neuen Beweis für den Satz, daß politische Fehler wie Lügen stets eine zahl¬ reiche Nachkommenschaft haben. Kein Verständiger hatte Sympathie sür den kläglichen Agitator, der sich allein durch persönliche Jnvectiven einen ephe¬ meren Ruf gemacht, die größte Strafe seitens der liberalen Minister war, ihn zu ignoriren und ihn zur verdienten Bedeutungslosigkeit sinken zu lassen, indem es ihm freien Raum gab sich in der Kammer lächerlich zu machen, wozu er auf dem besten Wege war. Statt dessen wollte Ollivier zeigen, daß auch eine liberale Regierung im Stande sei, dem Gesetz Nachdruck zu leihen und bestand auf seiner Verfolgung wegen eines Artikels, wie solche unter Forcade vielfach unbehelligt erschienen waren. Damit machte er den schwachen Demagogen zum politischen Märtyrer und setzte sich der Anklage seiner Gegner aus, daß er vor allem seinen Verpflichtungen gegen den Kaiser nachkommen wolle. Wir halten diese Anklage für unbegründet; wenn Napo¬ leon Ollivier seine Stellung erschweren wollte, so hätte er wahrscheinlich eher von ihm verlangt, daß er die eompromittirtett Werkzeuge der persön¬ lichen Regierung vertheidige, als daß er deren erbitterte Feinde verfolge. Aber die Folgen bleiben für den Minister gleich unglücklich. Nachdem nun einmal die Verurtheilung Rochefort's erfolgt war, so hätte die Klugheit er- fordert die Vollstreckung des Urtheils bis zum Schluß der Session zu ver- schieben, umsomehr als dies ganz der Praxis gemäß gewesen wäre, wonach früher die Regierung den wegen politischen Vergehen Verurtheilten erlaubte, selbst den Zeitpunkt zur Verbüßung ihrer Haft zu wählen. Damit hätte man die Möglichkeit einer Neuwahl in Paris vollkommen beseitigt. Allerdings hat das Urtheil Rochefort's Mandat als Abgeordneter nicht cassirt, aber er ver- steht das Handwerk des Demagogen und weiß, daß er sich stets rühren muß

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123087/341>, abgerufen am 29.06.2024.