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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. I. Band.

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Bas französische Ministerium.

Die Stellung des französischen Ministeriums hat sich in den letzten
Wochen nicht verbessert. Zwar Rochefort sitzt hinter Schloß und Riegel und
hat sich ohne Widerstand verhaften lassen, nachdem er trotz seines dreisten
Protestes in der "Marseillaise" die Geldbuße von 3000 Fres. in aller Stille
bezahlt hatte, vielleicht in der Hoffnung, damit durchzukommen. Nachdem
das Ministerium einmal den Beschluß gefaßt, gegen ihn vorzugehen, hat es
denselben mit Kraft und Geschicklichkeit durchgeführt und wird auch mit den
anderen Redacteuren wie dem tollköpfiger Flourens fertig werden. Den Be¬
schluß selbst halten wir nach wie vor für einen politischen Fehler, weil
man durch denselben einen elenden Agitator zu einer Persönlichkeit machte,
welche einer Ministerfrage werth erscheint. Wichtiger aber sind die indirecten
Folgen, welche dieser Jneidenzpunkt unserer Ansicht nach haben wird, weil
sie dem parlamentarischen Regiment weit weniger vortheilhaft sein müssen
als der Sache des anscheinend beseitigten persönlichen. Napoleon hat bei
dieser Gelegenheit sich überzeugen können, daß die revolutionäre Partei wohl
lärmen kann, aber ohne eigentliche Organisation und Führer ist, daß sie und
ihr Anhang doch nicht wagen, die Chassepöts in den breiten Straßen von
Paris herauszufordern; er wußte schon bei der Eröffnung der Session, daß
er sagen konnte: "Ich garantire die Ordnung", die neuesten Ereignisse haben
bestätigt, daß er die Macht hat, sein Wort wahr zu machen, er überläßt nur
die Sorge und das Odium der Ausführung dem constitutionellen Ministerium.
Was dieses betrifft, so hat es sich bei dieser Gelegenheit sowie bei den Han-
dclsfragen nicht als compacte Einheit gezeigt, vielmehr die Verschiedenartig¬
keit seiner Elemente ziemlich deutlich gezeigt. Bei den Interpellationen Cri-
mieux', Arago's, Mratry's und Gambetta's über Rocheforts Verurtheilung
und Verhaftung hatte Ollivier die ganze Last der Replik zu tragen. Es mochte
dies darin seinen Grund haben, daß das Cabinet weit weniger redegewandte
Mitglieder besitzt, als die früheren, in denen Nouher, Forcade und Magne
sich trefflich secundirten, aber vor der Kammer schien es, daß die Verfolgung
von Ollivier allein ausgegangen sei, wie dies denn auch wohl der Fall
war. Andererseits ließ er seine Collegen wieder ziemlich im Stich bei den
Handelsfragen. Die Debatte über dieselben hatte nun zwar kein praktisches
Ziel, indem es im Voraus feststand, daß die parlamentarische Untersuchung
beschlossen und der englische Vertrag nicht gekündigt werden würde. Eine Kün¬
digung war abgesehen von der Frage, ob die Wirkung des Vertrages günstig
oder ungünstig gewesen, schon deshalb nicht thunlich, weil Frankreich anderen


Grenzbotw 1.1870. 40
Bas französische Ministerium.

Die Stellung des französischen Ministeriums hat sich in den letzten
Wochen nicht verbessert. Zwar Rochefort sitzt hinter Schloß und Riegel und
hat sich ohne Widerstand verhaften lassen, nachdem er trotz seines dreisten
Protestes in der „Marseillaise" die Geldbuße von 3000 Fres. in aller Stille
bezahlt hatte, vielleicht in der Hoffnung, damit durchzukommen. Nachdem
das Ministerium einmal den Beschluß gefaßt, gegen ihn vorzugehen, hat es
denselben mit Kraft und Geschicklichkeit durchgeführt und wird auch mit den
anderen Redacteuren wie dem tollköpfiger Flourens fertig werden. Den Be¬
schluß selbst halten wir nach wie vor für einen politischen Fehler, weil
man durch denselben einen elenden Agitator zu einer Persönlichkeit machte,
welche einer Ministerfrage werth erscheint. Wichtiger aber sind die indirecten
Folgen, welche dieser Jneidenzpunkt unserer Ansicht nach haben wird, weil
sie dem parlamentarischen Regiment weit weniger vortheilhaft sein müssen
als der Sache des anscheinend beseitigten persönlichen. Napoleon hat bei
dieser Gelegenheit sich überzeugen können, daß die revolutionäre Partei wohl
lärmen kann, aber ohne eigentliche Organisation und Führer ist, daß sie und
ihr Anhang doch nicht wagen, die Chassepöts in den breiten Straßen von
Paris herauszufordern; er wußte schon bei der Eröffnung der Session, daß
er sagen konnte: „Ich garantire die Ordnung", die neuesten Ereignisse haben
bestätigt, daß er die Macht hat, sein Wort wahr zu machen, er überläßt nur
die Sorge und das Odium der Ausführung dem constitutionellen Ministerium.
Was dieses betrifft, so hat es sich bei dieser Gelegenheit sowie bei den Han-
dclsfragen nicht als compacte Einheit gezeigt, vielmehr die Verschiedenartig¬
keit seiner Elemente ziemlich deutlich gezeigt. Bei den Interpellationen Cri-
mieux', Arago's, Mratry's und Gambetta's über Rocheforts Verurtheilung
und Verhaftung hatte Ollivier die ganze Last der Replik zu tragen. Es mochte
dies darin seinen Grund haben, daß das Cabinet weit weniger redegewandte
Mitglieder besitzt, als die früheren, in denen Nouher, Forcade und Magne
sich trefflich secundirten, aber vor der Kammer schien es, daß die Verfolgung
von Ollivier allein ausgegangen sei, wie dies denn auch wohl der Fall
war. Andererseits ließ er seine Collegen wieder ziemlich im Stich bei den
Handelsfragen. Die Debatte über dieselben hatte nun zwar kein praktisches
Ziel, indem es im Voraus feststand, daß die parlamentarische Untersuchung
beschlossen und der englische Vertrag nicht gekündigt werden würde. Eine Kün¬
digung war abgesehen von der Frage, ob die Wirkung des Vertrages günstig
oder ungünstig gewesen, schon deshalb nicht thunlich, weil Frankreich anderen


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[0319] Bas französische Ministerium. Die Stellung des französischen Ministeriums hat sich in den letzten Wochen nicht verbessert. Zwar Rochefort sitzt hinter Schloß und Riegel und hat sich ohne Widerstand verhaften lassen, nachdem er trotz seines dreisten Protestes in der „Marseillaise" die Geldbuße von 3000 Fres. in aller Stille bezahlt hatte, vielleicht in der Hoffnung, damit durchzukommen. Nachdem das Ministerium einmal den Beschluß gefaßt, gegen ihn vorzugehen, hat es denselben mit Kraft und Geschicklichkeit durchgeführt und wird auch mit den anderen Redacteuren wie dem tollköpfiger Flourens fertig werden. Den Be¬ schluß selbst halten wir nach wie vor für einen politischen Fehler, weil man durch denselben einen elenden Agitator zu einer Persönlichkeit machte, welche einer Ministerfrage werth erscheint. Wichtiger aber sind die indirecten Folgen, welche dieser Jneidenzpunkt unserer Ansicht nach haben wird, weil sie dem parlamentarischen Regiment weit weniger vortheilhaft sein müssen als der Sache des anscheinend beseitigten persönlichen. Napoleon hat bei dieser Gelegenheit sich überzeugen können, daß die revolutionäre Partei wohl lärmen kann, aber ohne eigentliche Organisation und Führer ist, daß sie und ihr Anhang doch nicht wagen, die Chassepöts in den breiten Straßen von Paris herauszufordern; er wußte schon bei der Eröffnung der Session, daß er sagen konnte: „Ich garantire die Ordnung", die neuesten Ereignisse haben bestätigt, daß er die Macht hat, sein Wort wahr zu machen, er überläßt nur die Sorge und das Odium der Ausführung dem constitutionellen Ministerium. Was dieses betrifft, so hat es sich bei dieser Gelegenheit sowie bei den Han- dclsfragen nicht als compacte Einheit gezeigt, vielmehr die Verschiedenartig¬ keit seiner Elemente ziemlich deutlich gezeigt. Bei den Interpellationen Cri- mieux', Arago's, Mratry's und Gambetta's über Rocheforts Verurtheilung und Verhaftung hatte Ollivier die ganze Last der Replik zu tragen. Es mochte dies darin seinen Grund haben, daß das Cabinet weit weniger redegewandte Mitglieder besitzt, als die früheren, in denen Nouher, Forcade und Magne sich trefflich secundirten, aber vor der Kammer schien es, daß die Verfolgung von Ollivier allein ausgegangen sei, wie dies denn auch wohl der Fall war. Andererseits ließ er seine Collegen wieder ziemlich im Stich bei den Handelsfragen. Die Debatte über dieselben hatte nun zwar kein praktisches Ziel, indem es im Voraus feststand, daß die parlamentarische Untersuchung beschlossen und der englische Vertrag nicht gekündigt werden würde. Eine Kün¬ digung war abgesehen von der Frage, ob die Wirkung des Vertrages günstig oder ungünstig gewesen, schon deshalb nicht thunlich, weil Frankreich anderen Grenzbotw 1.1870. 40

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123087/319>, abgerufen am 28.09.2024.