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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. I. Band.

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deutlich zu erkennen ist. Es ist dem Einzelnen, der in der Einzelgemeinde
dem Drucke kleinlicher Verhältnisse auswich, durch die jetzige Sachlage ein
höheres Ziel für gemeinnützige Bestrebungen geboten, und es bewährt sich
auch hier das Wort des Dichters: "Im engern Kreis verengert sich der
Sinn, es wächst der Mensch mit seinen höheren Zwecken!"

In Einer Beziehung steht Hallbauer auf einem etwas veralteten Stand¬
punkt, wenn er nämlich wünscht, daß "durch Landesgesetz eine Einrichtung
getroffen werden möge, wonach allen Dienstboten und anderen unselbständi¬
gen Personen jährlich ein mäßiger Beitrag zur Unterhaltung eines Kran¬
kenhauses auferlegt, dagegen im Erkrankungsfall unentgeltliche Aufnahme im
Krankenhause zugesichert würde." Zur Begründung fügt er hinzu, es sei
schwierig, eine solche Einrichtung durch Vereinsbeschluß blos sür einen einzel¬
nen Amtsbezirk zu treffen, weil die Dienstboten an einer solchen Kranken¬
steuer Anstoß nehmen und sich den Nachbarbezirken ohne Krankensteuer zu¬
wenden möchten. Blos schwierig wäre eine solche Einrichtung durch Ver¬
einsbeschluß? nicht unmöglich, rechtlich unmöglich? Einem Armenverband
sollte gestattet sein, Personen eine Steuer aufzuerlegen, die ihn noch gar
nicht in Anspruch genommen haben oder nehmen, die vielleicht außerhalb
seiner Grenzen heimatsberechtigt sind, vielleicht längst anderswo Unterstützungs¬
anspruch erworben haben, wenn sie einmal verarmen, vielleicht auch -- und
das ist glücklicher Weise immer noch das wahrscheinlichste -- niemals ver-
aunm? Und ferner, hat das Königreich Sachsen nicht so gut Grenzen wie
ein einzelner sächsischer Amtsbezirk, über die ein allgemeiner Krankencassen-
zwang die Dienstboten nach Preußen, Thüringen, Bayern und Böhmen
treiben könnte? Man überlasse es einfach entweder den Dienstboten "und
andern unselbständigen Personen" oder den für das Wohl derselben verant¬
wortlichen selbständigen Personen, jenen für den Fall ernstlicher Erkrankung
ein gutes Unterkommen zu sichern, -- das wird gewisser zum Ziele führen
als unwillig'ertragener, die Selbsthilfe erstickender Zwang.

Auch wenn Hallbauer die Miene annimmt es zu beklagen, daß sein
Verein nicht auf gesetzlicher, sondern nur auf vertragsmäßiger, d. h. auf loser
Grundlage steht, und ihm daher "erst wenig Armenstiftungen zugewiesen
worden sind", vermögen wir seine Empfindung nicht zu theilen. Warum
soll das Fundament des Gesetzes solider sein als das des Vertrags? Sind
Gesetze unabänderlich? Tritt der Landtag nicht jedes Jahr zusammen? Werden
nicht sogar schon Anstalten getroffen, das Armenrecht zur Competenz des
norddeutschen Bundes zu ziehen? Sind nicht folglich allerhand unerwünschte
Eingriffe in den einmal hergestellten Bestand gerade dann am ersten denk¬
bar, wenn die Entscheidung, statt in Meißen selbst, dem Mittelpunkt des
Verbandes, in Dresden oder In Berlin liegt? Und steht dieser Gefahr nicht


deutlich zu erkennen ist. Es ist dem Einzelnen, der in der Einzelgemeinde
dem Drucke kleinlicher Verhältnisse auswich, durch die jetzige Sachlage ein
höheres Ziel für gemeinnützige Bestrebungen geboten, und es bewährt sich
auch hier das Wort des Dichters: „Im engern Kreis verengert sich der
Sinn, es wächst der Mensch mit seinen höheren Zwecken!"

In Einer Beziehung steht Hallbauer auf einem etwas veralteten Stand¬
punkt, wenn er nämlich wünscht, daß „durch Landesgesetz eine Einrichtung
getroffen werden möge, wonach allen Dienstboten und anderen unselbständi¬
gen Personen jährlich ein mäßiger Beitrag zur Unterhaltung eines Kran¬
kenhauses auferlegt, dagegen im Erkrankungsfall unentgeltliche Aufnahme im
Krankenhause zugesichert würde." Zur Begründung fügt er hinzu, es sei
schwierig, eine solche Einrichtung durch Vereinsbeschluß blos sür einen einzel¬
nen Amtsbezirk zu treffen, weil die Dienstboten an einer solchen Kranken¬
steuer Anstoß nehmen und sich den Nachbarbezirken ohne Krankensteuer zu¬
wenden möchten. Blos schwierig wäre eine solche Einrichtung durch Ver¬
einsbeschluß? nicht unmöglich, rechtlich unmöglich? Einem Armenverband
sollte gestattet sein, Personen eine Steuer aufzuerlegen, die ihn noch gar
nicht in Anspruch genommen haben oder nehmen, die vielleicht außerhalb
seiner Grenzen heimatsberechtigt sind, vielleicht längst anderswo Unterstützungs¬
anspruch erworben haben, wenn sie einmal verarmen, vielleicht auch — und
das ist glücklicher Weise immer noch das wahrscheinlichste — niemals ver-
aunm? Und ferner, hat das Königreich Sachsen nicht so gut Grenzen wie
ein einzelner sächsischer Amtsbezirk, über die ein allgemeiner Krankencassen-
zwang die Dienstboten nach Preußen, Thüringen, Bayern und Böhmen
treiben könnte? Man überlasse es einfach entweder den Dienstboten „und
andern unselbständigen Personen" oder den für das Wohl derselben verant¬
wortlichen selbständigen Personen, jenen für den Fall ernstlicher Erkrankung
ein gutes Unterkommen zu sichern, — das wird gewisser zum Ziele führen
als unwillig'ertragener, die Selbsthilfe erstickender Zwang.

Auch wenn Hallbauer die Miene annimmt es zu beklagen, daß sein
Verein nicht auf gesetzlicher, sondern nur auf vertragsmäßiger, d. h. auf loser
Grundlage steht, und ihm daher „erst wenig Armenstiftungen zugewiesen
worden sind", vermögen wir seine Empfindung nicht zu theilen. Warum
soll das Fundament des Gesetzes solider sein als das des Vertrags? Sind
Gesetze unabänderlich? Tritt der Landtag nicht jedes Jahr zusammen? Werden
nicht sogar schon Anstalten getroffen, das Armenrecht zur Competenz des
norddeutschen Bundes zu ziehen? Sind nicht folglich allerhand unerwünschte
Eingriffe in den einmal hergestellten Bestand gerade dann am ersten denk¬
bar, wenn die Entscheidung, statt in Meißen selbst, dem Mittelpunkt des
Verbandes, in Dresden oder In Berlin liegt? Und steht dieser Gefahr nicht


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[0317] deutlich zu erkennen ist. Es ist dem Einzelnen, der in der Einzelgemeinde dem Drucke kleinlicher Verhältnisse auswich, durch die jetzige Sachlage ein höheres Ziel für gemeinnützige Bestrebungen geboten, und es bewährt sich auch hier das Wort des Dichters: „Im engern Kreis verengert sich der Sinn, es wächst der Mensch mit seinen höheren Zwecken!" In Einer Beziehung steht Hallbauer auf einem etwas veralteten Stand¬ punkt, wenn er nämlich wünscht, daß „durch Landesgesetz eine Einrichtung getroffen werden möge, wonach allen Dienstboten und anderen unselbständi¬ gen Personen jährlich ein mäßiger Beitrag zur Unterhaltung eines Kran¬ kenhauses auferlegt, dagegen im Erkrankungsfall unentgeltliche Aufnahme im Krankenhause zugesichert würde." Zur Begründung fügt er hinzu, es sei schwierig, eine solche Einrichtung durch Vereinsbeschluß blos sür einen einzel¬ nen Amtsbezirk zu treffen, weil die Dienstboten an einer solchen Kranken¬ steuer Anstoß nehmen und sich den Nachbarbezirken ohne Krankensteuer zu¬ wenden möchten. Blos schwierig wäre eine solche Einrichtung durch Ver¬ einsbeschluß? nicht unmöglich, rechtlich unmöglich? Einem Armenverband sollte gestattet sein, Personen eine Steuer aufzuerlegen, die ihn noch gar nicht in Anspruch genommen haben oder nehmen, die vielleicht außerhalb seiner Grenzen heimatsberechtigt sind, vielleicht längst anderswo Unterstützungs¬ anspruch erworben haben, wenn sie einmal verarmen, vielleicht auch — und das ist glücklicher Weise immer noch das wahrscheinlichste — niemals ver- aunm? Und ferner, hat das Königreich Sachsen nicht so gut Grenzen wie ein einzelner sächsischer Amtsbezirk, über die ein allgemeiner Krankencassen- zwang die Dienstboten nach Preußen, Thüringen, Bayern und Böhmen treiben könnte? Man überlasse es einfach entweder den Dienstboten „und andern unselbständigen Personen" oder den für das Wohl derselben verant¬ wortlichen selbständigen Personen, jenen für den Fall ernstlicher Erkrankung ein gutes Unterkommen zu sichern, — das wird gewisser zum Ziele führen als unwillig'ertragener, die Selbsthilfe erstickender Zwang. Auch wenn Hallbauer die Miene annimmt es zu beklagen, daß sein Verein nicht auf gesetzlicher, sondern nur auf vertragsmäßiger, d. h. auf loser Grundlage steht, und ihm daher „erst wenig Armenstiftungen zugewiesen worden sind", vermögen wir seine Empfindung nicht zu theilen. Warum soll das Fundament des Gesetzes solider sein als das des Vertrags? Sind Gesetze unabänderlich? Tritt der Landtag nicht jedes Jahr zusammen? Werden nicht sogar schon Anstalten getroffen, das Armenrecht zur Competenz des norddeutschen Bundes zu ziehen? Sind nicht folglich allerhand unerwünschte Eingriffe in den einmal hergestellten Bestand gerade dann am ersten denk¬ bar, wenn die Entscheidung, statt in Meißen selbst, dem Mittelpunkt des Verbandes, in Dresden oder In Berlin liegt? Und steht dieser Gefahr nicht

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123087/317>, abgerufen am 28.09.2024.