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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. I. Band.

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Anspruch genommene Strafgewalt hat verschiedenen Umfang. Bitzer setzt
Strehla, wo kraft der Ermächtigung der Negierung Gefängniß bis zu drei
Wochen und körperliche Züchtigung bis zu dreißig Ruthenstreichen inner¬
halb der Anstalt selbst verhängt werden können, gegen Möckern, wo diese
Strafen höheren Grades dem Gericht vorbehalten, innerhalb der Anstalt nur
die aus deren Charakter fließenden Besserungsmittel angewendet werden,
wie Lob und Tadel, Entziehung der warmen Kost oder des weichen Lagers,
Zwangsbeschäftigung über die gewöhnliche Arbeitszeit hinaus. Hallbauer
nimmt an, die Frage von der Entbehrlichkeit der körperlichen Züchtigung
sei noch nicht abgeschlossen, die Aufrechthaltung der Disciplin in solchen An¬
stalten zwar durchschnittlich schwerer als in den Landesstrafanstalten, wo eine
Menge von Beamten und Aufsehern jeden Einzelnen unter beständiger Auf¬
sicht halte; er liefert indessen zur Feststellung der Antwort auf jene noch
schwebende Frage seinerseits gleichzeitig einen Beitrag, der in der Richtung
ihrer Bejahung liegt, indem er nämlich anführt, das Meißener Verbands¬
arbeitshaus im Dorfe Cölln habe während der damals (1868) verflossenen
ersten sechs Jahre seines Bestehens der Prügelstrafe thatsächlich nicht bedurft.
Sie wird also am Ende wohl obsolet werden, wie die grausamen Straf¬
androhungen der Carolina. Dagegen hat man sich dort einen neuesten Fort¬
schritt der Gefängnißkunde, das sogenannte irische System angeeignet, und
entläßt die Häuflinge bei verspürter Besserung auf unbestimmten Urlaub,
der nach einem tadellos verbrachten Jahre in definitive Entlassung übergeht.

Kinder nimmt der Meißener Verband bis jetzt nur ausnahmsweise in
das Haus auf. Er gibt sie willigen und geeigneten Familien in Pflege
und es ist die Aufgabe der Districtsvercine -- in deren zweiundzwanzig
der Verband zerfällt -- ihre Haltung dort zu überwachen. Aber da diese
Beaufsichtigung natürlich ihre Schwierigkeiten hat, überlegt man, ob nicht
eine Kinderstation geschaffen werden solle. Sie würde die Ausgaben für
diesen besonderen Zweck auf der Stelle merklich erhöhen; dafür spricht die
Erfahrung aller Länder und Städte.

Einer der Verbände, der Altensalzer. will die arbeitsfähigen, aber arbeits-
scheuen Armen durch das Zwangsarbeitshaus "zur Arbeit und Ordnung und
zur Erfüllung ihrer Pflichten als Christen und Staatsbürger anhalten."
Diese Formel empfiehlt sich nicht zur Adoption; sie nimmt den Mund zu
voll. Die Aufgabe echter Armenpflege ist Erziehung und zwar wirthschaft¬
liche Erziehung. Wirthschaftlicher Verfall, die Folge des Mangels an Wirth-
schaftlicher Tüchtigkeit und Einsicht, hat den Menschen soweit heruntergebracht,
daß die Fristung seines Daseins von Anderer Erbarmen abhängt; diesem
Mangel also gilt es durch weise Behandlung abzuhelfen, damit der Gesun¬
kene sich wieder selbst erhalten lerne. Die staatsbürgerlichen und die christ-


Anspruch genommene Strafgewalt hat verschiedenen Umfang. Bitzer setzt
Strehla, wo kraft der Ermächtigung der Negierung Gefängniß bis zu drei
Wochen und körperliche Züchtigung bis zu dreißig Ruthenstreichen inner¬
halb der Anstalt selbst verhängt werden können, gegen Möckern, wo diese
Strafen höheren Grades dem Gericht vorbehalten, innerhalb der Anstalt nur
die aus deren Charakter fließenden Besserungsmittel angewendet werden,
wie Lob und Tadel, Entziehung der warmen Kost oder des weichen Lagers,
Zwangsbeschäftigung über die gewöhnliche Arbeitszeit hinaus. Hallbauer
nimmt an, die Frage von der Entbehrlichkeit der körperlichen Züchtigung
sei noch nicht abgeschlossen, die Aufrechthaltung der Disciplin in solchen An¬
stalten zwar durchschnittlich schwerer als in den Landesstrafanstalten, wo eine
Menge von Beamten und Aufsehern jeden Einzelnen unter beständiger Auf¬
sicht halte; er liefert indessen zur Feststellung der Antwort auf jene noch
schwebende Frage seinerseits gleichzeitig einen Beitrag, der in der Richtung
ihrer Bejahung liegt, indem er nämlich anführt, das Meißener Verbands¬
arbeitshaus im Dorfe Cölln habe während der damals (1868) verflossenen
ersten sechs Jahre seines Bestehens der Prügelstrafe thatsächlich nicht bedurft.
Sie wird also am Ende wohl obsolet werden, wie die grausamen Straf¬
androhungen der Carolina. Dagegen hat man sich dort einen neuesten Fort¬
schritt der Gefängnißkunde, das sogenannte irische System angeeignet, und
entläßt die Häuflinge bei verspürter Besserung auf unbestimmten Urlaub,
der nach einem tadellos verbrachten Jahre in definitive Entlassung übergeht.

Kinder nimmt der Meißener Verband bis jetzt nur ausnahmsweise in
das Haus auf. Er gibt sie willigen und geeigneten Familien in Pflege
und es ist die Aufgabe der Districtsvercine — in deren zweiundzwanzig
der Verband zerfällt — ihre Haltung dort zu überwachen. Aber da diese
Beaufsichtigung natürlich ihre Schwierigkeiten hat, überlegt man, ob nicht
eine Kinderstation geschaffen werden solle. Sie würde die Ausgaben für
diesen besonderen Zweck auf der Stelle merklich erhöhen; dafür spricht die
Erfahrung aller Länder und Städte.

Einer der Verbände, der Altensalzer. will die arbeitsfähigen, aber arbeits-
scheuen Armen durch das Zwangsarbeitshaus „zur Arbeit und Ordnung und
zur Erfüllung ihrer Pflichten als Christen und Staatsbürger anhalten."
Diese Formel empfiehlt sich nicht zur Adoption; sie nimmt den Mund zu
voll. Die Aufgabe echter Armenpflege ist Erziehung und zwar wirthschaft¬
liche Erziehung. Wirthschaftlicher Verfall, die Folge des Mangels an Wirth-
schaftlicher Tüchtigkeit und Einsicht, hat den Menschen soweit heruntergebracht,
daß die Fristung seines Daseins von Anderer Erbarmen abhängt; diesem
Mangel also gilt es durch weise Behandlung abzuhelfen, damit der Gesun¬
kene sich wieder selbst erhalten lerne. Die staatsbürgerlichen und die christ-


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[0315] Anspruch genommene Strafgewalt hat verschiedenen Umfang. Bitzer setzt Strehla, wo kraft der Ermächtigung der Negierung Gefängniß bis zu drei Wochen und körperliche Züchtigung bis zu dreißig Ruthenstreichen inner¬ halb der Anstalt selbst verhängt werden können, gegen Möckern, wo diese Strafen höheren Grades dem Gericht vorbehalten, innerhalb der Anstalt nur die aus deren Charakter fließenden Besserungsmittel angewendet werden, wie Lob und Tadel, Entziehung der warmen Kost oder des weichen Lagers, Zwangsbeschäftigung über die gewöhnliche Arbeitszeit hinaus. Hallbauer nimmt an, die Frage von der Entbehrlichkeit der körperlichen Züchtigung sei noch nicht abgeschlossen, die Aufrechthaltung der Disciplin in solchen An¬ stalten zwar durchschnittlich schwerer als in den Landesstrafanstalten, wo eine Menge von Beamten und Aufsehern jeden Einzelnen unter beständiger Auf¬ sicht halte; er liefert indessen zur Feststellung der Antwort auf jene noch schwebende Frage seinerseits gleichzeitig einen Beitrag, der in der Richtung ihrer Bejahung liegt, indem er nämlich anführt, das Meißener Verbands¬ arbeitshaus im Dorfe Cölln habe während der damals (1868) verflossenen ersten sechs Jahre seines Bestehens der Prügelstrafe thatsächlich nicht bedurft. Sie wird also am Ende wohl obsolet werden, wie die grausamen Straf¬ androhungen der Carolina. Dagegen hat man sich dort einen neuesten Fort¬ schritt der Gefängnißkunde, das sogenannte irische System angeeignet, und entläßt die Häuflinge bei verspürter Besserung auf unbestimmten Urlaub, der nach einem tadellos verbrachten Jahre in definitive Entlassung übergeht. Kinder nimmt der Meißener Verband bis jetzt nur ausnahmsweise in das Haus auf. Er gibt sie willigen und geeigneten Familien in Pflege und es ist die Aufgabe der Districtsvercine — in deren zweiundzwanzig der Verband zerfällt — ihre Haltung dort zu überwachen. Aber da diese Beaufsichtigung natürlich ihre Schwierigkeiten hat, überlegt man, ob nicht eine Kinderstation geschaffen werden solle. Sie würde die Ausgaben für diesen besonderen Zweck auf der Stelle merklich erhöhen; dafür spricht die Erfahrung aller Länder und Städte. Einer der Verbände, der Altensalzer. will die arbeitsfähigen, aber arbeits- scheuen Armen durch das Zwangsarbeitshaus „zur Arbeit und Ordnung und zur Erfüllung ihrer Pflichten als Christen und Staatsbürger anhalten." Diese Formel empfiehlt sich nicht zur Adoption; sie nimmt den Mund zu voll. Die Aufgabe echter Armenpflege ist Erziehung und zwar wirthschaft¬ liche Erziehung. Wirthschaftlicher Verfall, die Folge des Mangels an Wirth- schaftlicher Tüchtigkeit und Einsicht, hat den Menschen soweit heruntergebracht, daß die Fristung seines Daseins von Anderer Erbarmen abhängt; diesem Mangel also gilt es durch weise Behandlung abzuhelfen, damit der Gesun¬ kene sich wieder selbst erhalten lerne. Die staatsbürgerlichen und die christ-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123087/315>, abgerufen am 29.06.2024.