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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. I. Band.

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besttzer und einzelne Gerichtsvorstände der Sache geleistet haben, läßt er da¬
hingestellt, ob sich ähnliche bahnbrechende Uebernehmer eines unbesoldeten
Ehrenamts auch in seiner schwäbischen Heimath finden werden. Meint er viel¬
leicht, der specifisch-politische Kampf zehre dort alle verfügbare active Kraft
mehr oder weniger zwecklos auf?

Den unerträglichen Zustand, aus welchem die neuen Schöpfungen in
Sachsen die Landgemeinden zu erlösen angefangen haben, schildert auch der
jüngste Schriftsteller über die Materie, Advocat Hallbauer in Meißen, in
seiner Schilderung des dortigen großen Amtslandschafts.Armenverbandes
(1868), in aller Schlichtheit ergreifend genug: "Es können mehrfache Fälle
nachgewiesen werden, daß erwerbsfähige Arme über ihre Gemeinden eine Art
Tyrannei ausgeübt haben; die Wohnung im Gemeindehaus war ihnen nicht
gut genug, die Gelduntorstützung nicht genügend; wollte der Gemeindevor¬
stand sich ihren Wünschen nicht fügen, so führten sie bei der Amtsbehörde
Beschwerde; die Beschwerden wurden immer und immer wiederholt, so daß
der Gemeindevorstand, um den vielfachen Verantwortungen und Zeitver¬
säumnissen zu entgehen, sich endlich fügte; Disciplinarmaßregeln, um diese
Leute zur Arbeit zu nöthigen, konnte der kleine Heimathsbezirk nicht anwenden,
dazu fehlten ihm die Mittel; andererseits entstand unter den ärmeren Ge¬
meindemitgliedern, die selbständig, aber mit mühseliger Anstrengung sich
und die Ihrigen erhielten, eine Unzufriedenheit darüber, daß faule Leute von
der Gemeinde ernährt wurden und sich besser befanden, als die andern be¬
drängten Gemeindemitglieder, die ohne Armenunterstützung sich selbst fort¬
halfen." Diese Uebelstände, fügt Hallbauer hinzu, sind in der 26,000 Een-
° wohner enthaltenden Amtslandschaft Meißen "seit Begründung des Gesammt-
vereins gänzlich gehoben."

Der in dem Bezirksarbeitshaus geübte Zwang läßt sich im allgemeinen
wie folgt charakterisiren. Der Hänfling verliert mit den Eintritt die freie
Verfügung über seine Arbeitszeit und Arbeitskraft; er muß nach Vorschrift
arbeiten, und zwar ordentlich arbeiten, wenn er nicht bestraft sein will; er
erhält dasür einen bestimmten Lohn angerechnet, von welchem aber die Kosten
der Wohnung, Beköstigung, Bekleidung, Heizung sowohl für ihn als für
die Seinigen, das Schulgeld seiner Kinder, die rückzahlbaren früheren Unter¬
stützungen abgehen; er ist der Hausordnung unterworfen, die ihm namentlich
untersagt, ohne Erlaubniß auszugehen, über Nacht auszubleiben und ohne
Erlaubniß Besuch anzunehmen. In diesem letzteren Punkt ist die Ordnung
des englischen Zwangsarbeitshauses noch strenger: sie verpönt Ausgehen und
Besuchempfangen ganz. Aber auch im sächsischen Werkhaus kommt der Auf¬
enthalt, wie man sieht, der Bevormundung eines unerwachsenen Kindes völlig
gleich und fügt derselben den Frohndienst der alten Hörigen hinzu. Die in


besttzer und einzelne Gerichtsvorstände der Sache geleistet haben, läßt er da¬
hingestellt, ob sich ähnliche bahnbrechende Uebernehmer eines unbesoldeten
Ehrenamts auch in seiner schwäbischen Heimath finden werden. Meint er viel¬
leicht, der specifisch-politische Kampf zehre dort alle verfügbare active Kraft
mehr oder weniger zwecklos auf?

Den unerträglichen Zustand, aus welchem die neuen Schöpfungen in
Sachsen die Landgemeinden zu erlösen angefangen haben, schildert auch der
jüngste Schriftsteller über die Materie, Advocat Hallbauer in Meißen, in
seiner Schilderung des dortigen großen Amtslandschafts.Armenverbandes
(1868), in aller Schlichtheit ergreifend genug: „Es können mehrfache Fälle
nachgewiesen werden, daß erwerbsfähige Arme über ihre Gemeinden eine Art
Tyrannei ausgeübt haben; die Wohnung im Gemeindehaus war ihnen nicht
gut genug, die Gelduntorstützung nicht genügend; wollte der Gemeindevor¬
stand sich ihren Wünschen nicht fügen, so führten sie bei der Amtsbehörde
Beschwerde; die Beschwerden wurden immer und immer wiederholt, so daß
der Gemeindevorstand, um den vielfachen Verantwortungen und Zeitver¬
säumnissen zu entgehen, sich endlich fügte; Disciplinarmaßregeln, um diese
Leute zur Arbeit zu nöthigen, konnte der kleine Heimathsbezirk nicht anwenden,
dazu fehlten ihm die Mittel; andererseits entstand unter den ärmeren Ge¬
meindemitgliedern, die selbständig, aber mit mühseliger Anstrengung sich
und die Ihrigen erhielten, eine Unzufriedenheit darüber, daß faule Leute von
der Gemeinde ernährt wurden und sich besser befanden, als die andern be¬
drängten Gemeindemitglieder, die ohne Armenunterstützung sich selbst fort¬
halfen." Diese Uebelstände, fügt Hallbauer hinzu, sind in der 26,000 Een-
° wohner enthaltenden Amtslandschaft Meißen „seit Begründung des Gesammt-
vereins gänzlich gehoben."

Der in dem Bezirksarbeitshaus geübte Zwang läßt sich im allgemeinen
wie folgt charakterisiren. Der Hänfling verliert mit den Eintritt die freie
Verfügung über seine Arbeitszeit und Arbeitskraft; er muß nach Vorschrift
arbeiten, und zwar ordentlich arbeiten, wenn er nicht bestraft sein will; er
erhält dasür einen bestimmten Lohn angerechnet, von welchem aber die Kosten
der Wohnung, Beköstigung, Bekleidung, Heizung sowohl für ihn als für
die Seinigen, das Schulgeld seiner Kinder, die rückzahlbaren früheren Unter¬
stützungen abgehen; er ist der Hausordnung unterworfen, die ihm namentlich
untersagt, ohne Erlaubniß auszugehen, über Nacht auszubleiben und ohne
Erlaubniß Besuch anzunehmen. In diesem letzteren Punkt ist die Ordnung
des englischen Zwangsarbeitshauses noch strenger: sie verpönt Ausgehen und
Besuchempfangen ganz. Aber auch im sächsischen Werkhaus kommt der Auf¬
enthalt, wie man sieht, der Bevormundung eines unerwachsenen Kindes völlig
gleich und fügt derselben den Frohndienst der alten Hörigen hinzu. Die in


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123087/314>, abgerufen am 29.06.2024.