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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. I. Band.

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befördern, ermuthigt durch bereits vorliegende Unternehmungen der Art in
Strehla, Taucha, Rochlitz und Meißen. Im erstgenannten Orte war An¬
fang 1860 ein Bezirksarbeitshaus für die Gerichtsämter Oschatz und Strehla
durch den Rittergutsbesitzer F. v. Schönberg auf Bornitz begründet worden,
der schon früher als Schriftsteller in Armensachen aufgetreten war. Die Idee
brach aber gleichzeitig an verschiedenen Orten durch und andere Gegenden des
Landes folgten nach. Man verband sich theils zur gemeinsamen Errichtung eines
Zwangsarbeitshauses, theils noch zu weitern armenpflegerischen Zwecken, in
Meißen und Taucha sogar zu mehr oder weniger gemeinschaftlichem Betrieb der
gesammten Armenpflege; immer aber aus freier socialer Initiative, ohne anderes
Zuthun der Staatsgewalt, als daß diese die Statuten genehmigt und ihre
Behörden zur Förderung der Verbandsthätigkeit in den ihnen durch diese selbst
gezogenen,Grenzen anwies. Mit der Statuten-Genehmigung erlangten die
Verbände individuelle Rechtsfähigkeit, das was man moralische oder juri¬
stische Personen zu nennen pflegt. Durch die Statuten legten die Verbände
sich bei und bestätigte die Regierung ihnen soviel Strafgewalt, wie sie zur
erfolgreichen Behandlung der Bettler, Landstreicher und Arbeitsscheuen nöthig
zu haben glaubten -- der eine mehr, der andere weniger. So ging die Ar¬
menpolizei im wesentlichen auf sie über und der alte verderbliche Dualismus
war gehoben. In dieser sanften Austreibung der Staatsbehörden aus der
Landarmenpflege liegt der wesentliche, der befreiende Zug der Neuerung, ge¬
gen dessen hohen Werth die Bedenken wider das Zwangsarbeitshaus, wie sie
oben angedeutet, nicht Stich halten, und der eine Art von Uebergang zur Ver¬
waltung in sich schließt, welche weit über papierener, Selbstverwaltung decreti-
renden Gesetzen steht. Denn hier sind mit den Acte der Entstehung auch sofort
die befähigten Träger gegeben; die Selbstverwaltung verdrängt büreaukratische
Verwaltung genau nur in dem Umfange, wie sie sicher ist dieselbe durch ihre
Leistungen zu überbieten.

Hr. Bitzer, der vorhin citirte Armenschriftsteller, ist ein Staatsbeamter,
würtembergischer Oberregierungsrath, er hat die sächsischen Bezirksarmen¬
arbeitshäuser im Interesse ihrer eventuellen Verpflanzung nach Würtemberg.
sozusagen officiell studirt. Er gehört nicht zu den principiellen Bekennern
oder gar zu den Aposteln der Idee einer freien Armenpflege. Aber er sagt
am Schlüsse des die Organisation der sächsischen Armenvereine betreffenden
Abschnitts seiner Schrift: "Gerade die von der Regierung zugelassene ganz
freie Bewegung muß als eine der Hauptbedingungen des Zustandekommens
und der Lebensfähigkeit und Ausbreitung der Vereine angesehen werden, da
doch nur in der freien Thätigkeit der Vereinsmitglieder und ihrer Organe
die wahre Bürgschaft eines gedeihlichen Wirkens derselben liegt"; und indem
er auf die hervorragenden Dienste hinweist, welche in Sachsen Ritterguts-


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befördern, ermuthigt durch bereits vorliegende Unternehmungen der Art in
Strehla, Taucha, Rochlitz und Meißen. Im erstgenannten Orte war An¬
fang 1860 ein Bezirksarbeitshaus für die Gerichtsämter Oschatz und Strehla
durch den Rittergutsbesitzer F. v. Schönberg auf Bornitz begründet worden,
der schon früher als Schriftsteller in Armensachen aufgetreten war. Die Idee
brach aber gleichzeitig an verschiedenen Orten durch und andere Gegenden des
Landes folgten nach. Man verband sich theils zur gemeinsamen Errichtung eines
Zwangsarbeitshauses, theils noch zu weitern armenpflegerischen Zwecken, in
Meißen und Taucha sogar zu mehr oder weniger gemeinschaftlichem Betrieb der
gesammten Armenpflege; immer aber aus freier socialer Initiative, ohne anderes
Zuthun der Staatsgewalt, als daß diese die Statuten genehmigt und ihre
Behörden zur Förderung der Verbandsthätigkeit in den ihnen durch diese selbst
gezogenen,Grenzen anwies. Mit der Statuten-Genehmigung erlangten die
Verbände individuelle Rechtsfähigkeit, das was man moralische oder juri¬
stische Personen zu nennen pflegt. Durch die Statuten legten die Verbände
sich bei und bestätigte die Regierung ihnen soviel Strafgewalt, wie sie zur
erfolgreichen Behandlung der Bettler, Landstreicher und Arbeitsscheuen nöthig
zu haben glaubten — der eine mehr, der andere weniger. So ging die Ar¬
menpolizei im wesentlichen auf sie über und der alte verderbliche Dualismus
war gehoben. In dieser sanften Austreibung der Staatsbehörden aus der
Landarmenpflege liegt der wesentliche, der befreiende Zug der Neuerung, ge¬
gen dessen hohen Werth die Bedenken wider das Zwangsarbeitshaus, wie sie
oben angedeutet, nicht Stich halten, und der eine Art von Uebergang zur Ver¬
waltung in sich schließt, welche weit über papierener, Selbstverwaltung decreti-
renden Gesetzen steht. Denn hier sind mit den Acte der Entstehung auch sofort
die befähigten Träger gegeben; die Selbstverwaltung verdrängt büreaukratische
Verwaltung genau nur in dem Umfange, wie sie sicher ist dieselbe durch ihre
Leistungen zu überbieten.

Hr. Bitzer, der vorhin citirte Armenschriftsteller, ist ein Staatsbeamter,
würtembergischer Oberregierungsrath, er hat die sächsischen Bezirksarmen¬
arbeitshäuser im Interesse ihrer eventuellen Verpflanzung nach Würtemberg.
sozusagen officiell studirt. Er gehört nicht zu den principiellen Bekennern
oder gar zu den Aposteln der Idee einer freien Armenpflege. Aber er sagt
am Schlüsse des die Organisation der sächsischen Armenvereine betreffenden
Abschnitts seiner Schrift: „Gerade die von der Regierung zugelassene ganz
freie Bewegung muß als eine der Hauptbedingungen des Zustandekommens
und der Lebensfähigkeit und Ausbreitung der Vereine angesehen werden, da
doch nur in der freien Thätigkeit der Vereinsmitglieder und ihrer Organe
die wahre Bürgschaft eines gedeihlichen Wirkens derselben liegt"; und indem
er auf die hervorragenden Dienste hinweist, welche in Sachsen Ritterguts-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123087/313>, abgerufen am 29.06.2024.