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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. I. Band.

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Die Armenordnung von 1840 empfing einen Keim fruchtbarer Reformen
in den Bestimmungen, welche die Bildung größerer Armenverbände ermög¬
lichen und erleichtern sollten. Aber dieser Keim begann erst aufzugehen,
nachdem die 1846 beginnenden wirthschaftlichen, gesellschaftlichen und staat¬
lichen Erschütterungen den starren Boden hinlänglich gelockert hatten. Da¬
mals drohte die Bettelei wieder eine ordentliche Landplage zu werden, wie
sie in früheren Jahrzehnten und Jahrhunderten gewesen war. Die Gemein¬
den in ihrer Vereinzelung und gesetzlichen Gebundenheit fühlten sich der Frech¬
heit arbeitsscheuen Gesindels gegenüber geradezu machtlos. Da begann man
die Ermächtigung des Gesetzes von 1840 zu benutzen, zunächst in der loseren
Form von Armenvereinen, die hauptsächlich die Bettlerplage bekämpften,
und deren sich bis 1837 schon 63 mit 1147 Ortschaften und Rittergütern
gebildet hatten. Sie hielten am 31. März 18S7 eine Delegirtenversammlung
in Dresden ab, auf der einen Mittelpunkt der Verhandlungen die Frage bil¬
dete, ob man nicht bezirksweise (für je ein oder mehrere Gerichtsämter)
Zwangsarbeitshäuser nach Art der englischen ins Leben rufen solle. Was im
Wege stand, war vornehmlich jene Zerreißung der armenrechtlichen Befugnisse
und Lasten, welche die Armenpflege den Staatsbehörden vorbehielt, die Haupt¬
quelle alles Unheils im sächsischen Landarmenwesen. Die Regierung war jedoch
nicht abgeneigt, den Armenvereinen hierin einen Schritt entgegenzukommen. Sie
legte dem Landtag im April 1858 einen dahinzielenden Gesetzentwurf vor. Allein
derselbe gelangte nicht zur Verabschiedung. Wie Bitzer meint ("Die Bezirks-
Armen-Arbeitshäuser im Königreich Sachsen" S. 34) trugen dazu die im
Dresdner Journal veröffentlichen Briefe des Gerichtsamtmanns Friedrich in
Chemnitz viel bei, welche Zwangsarbeitshäuser für unerschwinglich theuer,
durch das Correctionshaus unnöthig, und selbst an sich unzweckmäßig erklärten.
Das Ziel der Armenpflege, hieß es in letzterer Hinsicht insbesondere, müßte
immer nur Auf- und Forthilfe der gesunkenen Arbeitsfähigen, die sittliche
und materielle Besserung sein, diese könne aber in solchen Anstalten nicht er¬
zielt werden, weil für die Pfleglinge nur selten die sür sie geeignete Arbeit
werde zu beschaffen sein; noch weniger diejenige Arbeit, welche sie bei ihrer
Rückkehr ins Leben zu ernähren, oder eine solche durch die sie etwas zu er¬
übrigen vermöchten, und weil die Pfleglinge im Umgang mit Gleichgesinnten,
entfernt von allen Berührungen mit der Außenwelt, nur selten würden sitt¬
lich gehoben werden. Der Strom der Ideen und Experimente wandte sich
daher mehr der Verbesserung der Ortsarmenpflege zu. Die Regierung
gab indessen für ihren Theil den 18S7 ergriffenen Gedanken nicht wieder auf;
ein Erlaß an die Kreisdirectionen vom 30. Oetober 1861 wollte, was im
Wege der Gesetzgebung 1858 gescheitert war, durch den leisem und langsa¬
mer wirkenden Einfluß der Staatsbehörden auf die Gemeinde-Armenpflege


Die Armenordnung von 1840 empfing einen Keim fruchtbarer Reformen
in den Bestimmungen, welche die Bildung größerer Armenverbände ermög¬
lichen und erleichtern sollten. Aber dieser Keim begann erst aufzugehen,
nachdem die 1846 beginnenden wirthschaftlichen, gesellschaftlichen und staat¬
lichen Erschütterungen den starren Boden hinlänglich gelockert hatten. Da¬
mals drohte die Bettelei wieder eine ordentliche Landplage zu werden, wie
sie in früheren Jahrzehnten und Jahrhunderten gewesen war. Die Gemein¬
den in ihrer Vereinzelung und gesetzlichen Gebundenheit fühlten sich der Frech¬
heit arbeitsscheuen Gesindels gegenüber geradezu machtlos. Da begann man
die Ermächtigung des Gesetzes von 1840 zu benutzen, zunächst in der loseren
Form von Armenvereinen, die hauptsächlich die Bettlerplage bekämpften,
und deren sich bis 1837 schon 63 mit 1147 Ortschaften und Rittergütern
gebildet hatten. Sie hielten am 31. März 18S7 eine Delegirtenversammlung
in Dresden ab, auf der einen Mittelpunkt der Verhandlungen die Frage bil¬
dete, ob man nicht bezirksweise (für je ein oder mehrere Gerichtsämter)
Zwangsarbeitshäuser nach Art der englischen ins Leben rufen solle. Was im
Wege stand, war vornehmlich jene Zerreißung der armenrechtlichen Befugnisse
und Lasten, welche die Armenpflege den Staatsbehörden vorbehielt, die Haupt¬
quelle alles Unheils im sächsischen Landarmenwesen. Die Regierung war jedoch
nicht abgeneigt, den Armenvereinen hierin einen Schritt entgegenzukommen. Sie
legte dem Landtag im April 1858 einen dahinzielenden Gesetzentwurf vor. Allein
derselbe gelangte nicht zur Verabschiedung. Wie Bitzer meint („Die Bezirks-
Armen-Arbeitshäuser im Königreich Sachsen" S. 34) trugen dazu die im
Dresdner Journal veröffentlichen Briefe des Gerichtsamtmanns Friedrich in
Chemnitz viel bei, welche Zwangsarbeitshäuser für unerschwinglich theuer,
durch das Correctionshaus unnöthig, und selbst an sich unzweckmäßig erklärten.
Das Ziel der Armenpflege, hieß es in letzterer Hinsicht insbesondere, müßte
immer nur Auf- und Forthilfe der gesunkenen Arbeitsfähigen, die sittliche
und materielle Besserung sein, diese könne aber in solchen Anstalten nicht er¬
zielt werden, weil für die Pfleglinge nur selten die sür sie geeignete Arbeit
werde zu beschaffen sein; noch weniger diejenige Arbeit, welche sie bei ihrer
Rückkehr ins Leben zu ernähren, oder eine solche durch die sie etwas zu er¬
übrigen vermöchten, und weil die Pfleglinge im Umgang mit Gleichgesinnten,
entfernt von allen Berührungen mit der Außenwelt, nur selten würden sitt¬
lich gehoben werden. Der Strom der Ideen und Experimente wandte sich
daher mehr der Verbesserung der Ortsarmenpflege zu. Die Regierung
gab indessen für ihren Theil den 18S7 ergriffenen Gedanken nicht wieder auf;
ein Erlaß an die Kreisdirectionen vom 30. Oetober 1861 wollte, was im
Wege der Gesetzgebung 1858 gescheitert war, durch den leisem und langsa¬
mer wirkenden Einfluß der Staatsbehörden auf die Gemeinde-Armenpflege


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[0312] Die Armenordnung von 1840 empfing einen Keim fruchtbarer Reformen in den Bestimmungen, welche die Bildung größerer Armenverbände ermög¬ lichen und erleichtern sollten. Aber dieser Keim begann erst aufzugehen, nachdem die 1846 beginnenden wirthschaftlichen, gesellschaftlichen und staat¬ lichen Erschütterungen den starren Boden hinlänglich gelockert hatten. Da¬ mals drohte die Bettelei wieder eine ordentliche Landplage zu werden, wie sie in früheren Jahrzehnten und Jahrhunderten gewesen war. Die Gemein¬ den in ihrer Vereinzelung und gesetzlichen Gebundenheit fühlten sich der Frech¬ heit arbeitsscheuen Gesindels gegenüber geradezu machtlos. Da begann man die Ermächtigung des Gesetzes von 1840 zu benutzen, zunächst in der loseren Form von Armenvereinen, die hauptsächlich die Bettlerplage bekämpften, und deren sich bis 1837 schon 63 mit 1147 Ortschaften und Rittergütern gebildet hatten. Sie hielten am 31. März 18S7 eine Delegirtenversammlung in Dresden ab, auf der einen Mittelpunkt der Verhandlungen die Frage bil¬ dete, ob man nicht bezirksweise (für je ein oder mehrere Gerichtsämter) Zwangsarbeitshäuser nach Art der englischen ins Leben rufen solle. Was im Wege stand, war vornehmlich jene Zerreißung der armenrechtlichen Befugnisse und Lasten, welche die Armenpflege den Staatsbehörden vorbehielt, die Haupt¬ quelle alles Unheils im sächsischen Landarmenwesen. Die Regierung war jedoch nicht abgeneigt, den Armenvereinen hierin einen Schritt entgegenzukommen. Sie legte dem Landtag im April 1858 einen dahinzielenden Gesetzentwurf vor. Allein derselbe gelangte nicht zur Verabschiedung. Wie Bitzer meint („Die Bezirks- Armen-Arbeitshäuser im Königreich Sachsen" S. 34) trugen dazu die im Dresdner Journal veröffentlichen Briefe des Gerichtsamtmanns Friedrich in Chemnitz viel bei, welche Zwangsarbeitshäuser für unerschwinglich theuer, durch das Correctionshaus unnöthig, und selbst an sich unzweckmäßig erklärten. Das Ziel der Armenpflege, hieß es in letzterer Hinsicht insbesondere, müßte immer nur Auf- und Forthilfe der gesunkenen Arbeitsfähigen, die sittliche und materielle Besserung sein, diese könne aber in solchen Anstalten nicht er¬ zielt werden, weil für die Pfleglinge nur selten die sür sie geeignete Arbeit werde zu beschaffen sein; noch weniger diejenige Arbeit, welche sie bei ihrer Rückkehr ins Leben zu ernähren, oder eine solche durch die sie etwas zu er¬ übrigen vermöchten, und weil die Pfleglinge im Umgang mit Gleichgesinnten, entfernt von allen Berührungen mit der Außenwelt, nur selten würden sitt¬ lich gehoben werden. Der Strom der Ideen und Experimente wandte sich daher mehr der Verbesserung der Ortsarmenpflege zu. Die Regierung gab indessen für ihren Theil den 18S7 ergriffenen Gedanken nicht wieder auf; ein Erlaß an die Kreisdirectionen vom 30. Oetober 1861 wollte, was im Wege der Gesetzgebung 1858 gescheitert war, durch den leisem und langsa¬ mer wirkenden Einfluß der Staatsbehörden auf die Gemeinde-Armenpflege

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123087/312>, abgerufen am 29.06.2024.