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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. I. Band.

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Karl VIII. seinen verwegenen Kriegszug gegen Neapel unternahm, erhielt er
den überaus wichtigen Gesandtschaftsposten in Venedig. Hier erwarb er sich
die größten Verdienste um Frankreich, indem er, mitten unter denjenigen
Staatsmännern, die nach der augenblicklichen Lage für Karl VIII. die ge¬
fährlichsten Feinde waren, die Bildung einer antifranzösischen Ligue lange
Zeit verzögerte und schließlich, als die Franzosen aus Italien zurückweichen
mußten, die Gefahren, welche von der endlich zu Stande gekommenen Ligue
drohten, auf ein möglichst geringes Maß zurückführte. Daher behauptete
er sich auch, obwohl er die einflußreiche Stellung, die er unter Ludwig XI.
besessen hatte, nicht ganz wieder zu erlangen vermochte, bis zum Tode
Karls VIII. in hohem Ansetzn und behielt seine Autorität unter der Re¬
gierung Ludwigs XII., dem er ja schon, als derselbe noch Herzog von Or¬
leans gewesen war, gegen Anna von Beaujeu beigestanden hatte. Seine
Memoiren hatte er nicht lange nach dem Tode Ludwigs XI. zu schreiben be¬
gonnen, hatte sie in den darauf folgenden Jahren nach und nach fortgesetzt
und den Schluß während seiner letzten Lebenszeit ausgearbeitet. Er starb
am 18. October 1511 auf seinem Schlosse zu Argentor.

Ueberblicken wir diesen Lebenslauf noch einmal, so fällt uns wohl vor
Allem die politische Charakterlosigkeit des Mannes, der als Schriftsteller so
gut erzählt, ins Auge. Commynes unterstützt die legitime Gewalt und rebellirt
gegen dieselbe; er gibt sich zum Werkzeug der häßlichsten Willkürherrschaft
hin und kämpft für die freiere Entwickelung des ständischen Regiments:
er zeigt sich als ein großartiger Staatsmann und ist doch fähig, beinahe
jegliche politische Schlechtigkeit ohne den geringsten Scrupel auszuführen.
Da erscheint freilich auffallend, daß die Memoiren eines solches Mannes die
vorhin erwähnte Verbreitung und Werthschätzung gefunden haben. Und doch
ist dies der Fall gewesen: die politischen und moralischen Grundsätze, die er
ausspricht, sind mehrfach mit ähnlichen Sätzen von Tacitus und Thucydides
zusammengestellt worden und Pierre Matthieu hat der Geschichte Lud¬
wigs XI., die er im Jahre 1610 veröffentlicht, eine Sentenzensammlung aus
den Memoiren Commynes' als einen Schatz der höchsten Weisheit angehängt.

Indessen der Gegensatz, der zwischen dem Staatsmann und dem Schrift¬
steller Commynes vorhanden zu sein scheint, verschwindet vollständig, wenn
man nur eine nähere Prüfung der Memoiren unternimmt. Was zu¬
nächst die Glaubwürdigkeit derselben anbetrifft, so ist schon vor langen Jah¬
ren durch Leopold Ranke darauf hingedeutet worden, daß Commynes sich
in dieser Hinsicht schwerlich habe bedeutendere Fehler zu Schulden kommen
lassen*). Löbell hat diese Frage etwas später in einer eigenen Abhandlung



") Ranke, zur Kritik neuerer Geschichtschreiber, 1824, S. 169 ff.

Karl VIII. seinen verwegenen Kriegszug gegen Neapel unternahm, erhielt er
den überaus wichtigen Gesandtschaftsposten in Venedig. Hier erwarb er sich
die größten Verdienste um Frankreich, indem er, mitten unter denjenigen
Staatsmännern, die nach der augenblicklichen Lage für Karl VIII. die ge¬
fährlichsten Feinde waren, die Bildung einer antifranzösischen Ligue lange
Zeit verzögerte und schließlich, als die Franzosen aus Italien zurückweichen
mußten, die Gefahren, welche von der endlich zu Stande gekommenen Ligue
drohten, auf ein möglichst geringes Maß zurückführte. Daher behauptete
er sich auch, obwohl er die einflußreiche Stellung, die er unter Ludwig XI.
besessen hatte, nicht ganz wieder zu erlangen vermochte, bis zum Tode
Karls VIII. in hohem Ansetzn und behielt seine Autorität unter der Re¬
gierung Ludwigs XII., dem er ja schon, als derselbe noch Herzog von Or¬
leans gewesen war, gegen Anna von Beaujeu beigestanden hatte. Seine
Memoiren hatte er nicht lange nach dem Tode Ludwigs XI. zu schreiben be¬
gonnen, hatte sie in den darauf folgenden Jahren nach und nach fortgesetzt
und den Schluß während seiner letzten Lebenszeit ausgearbeitet. Er starb
am 18. October 1511 auf seinem Schlosse zu Argentor.

Ueberblicken wir diesen Lebenslauf noch einmal, so fällt uns wohl vor
Allem die politische Charakterlosigkeit des Mannes, der als Schriftsteller so
gut erzählt, ins Auge. Commynes unterstützt die legitime Gewalt und rebellirt
gegen dieselbe; er gibt sich zum Werkzeug der häßlichsten Willkürherrschaft
hin und kämpft für die freiere Entwickelung des ständischen Regiments:
er zeigt sich als ein großartiger Staatsmann und ist doch fähig, beinahe
jegliche politische Schlechtigkeit ohne den geringsten Scrupel auszuführen.
Da erscheint freilich auffallend, daß die Memoiren eines solches Mannes die
vorhin erwähnte Verbreitung und Werthschätzung gefunden haben. Und doch
ist dies der Fall gewesen: die politischen und moralischen Grundsätze, die er
ausspricht, sind mehrfach mit ähnlichen Sätzen von Tacitus und Thucydides
zusammengestellt worden und Pierre Matthieu hat der Geschichte Lud¬
wigs XI., die er im Jahre 1610 veröffentlicht, eine Sentenzensammlung aus
den Memoiren Commynes' als einen Schatz der höchsten Weisheit angehängt.

Indessen der Gegensatz, der zwischen dem Staatsmann und dem Schrift¬
steller Commynes vorhanden zu sein scheint, verschwindet vollständig, wenn
man nur eine nähere Prüfung der Memoiren unternimmt. Was zu¬
nächst die Glaubwürdigkeit derselben anbetrifft, so ist schon vor langen Jah¬
ren durch Leopold Ranke darauf hingedeutet worden, daß Commynes sich
in dieser Hinsicht schwerlich habe bedeutendere Fehler zu Schulden kommen
lassen*). Löbell hat diese Frage etwas später in einer eigenen Abhandlung



") Ranke, zur Kritik neuerer Geschichtschreiber, 1824, S. 169 ff.
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[0299] Karl VIII. seinen verwegenen Kriegszug gegen Neapel unternahm, erhielt er den überaus wichtigen Gesandtschaftsposten in Venedig. Hier erwarb er sich die größten Verdienste um Frankreich, indem er, mitten unter denjenigen Staatsmännern, die nach der augenblicklichen Lage für Karl VIII. die ge¬ fährlichsten Feinde waren, die Bildung einer antifranzösischen Ligue lange Zeit verzögerte und schließlich, als die Franzosen aus Italien zurückweichen mußten, die Gefahren, welche von der endlich zu Stande gekommenen Ligue drohten, auf ein möglichst geringes Maß zurückführte. Daher behauptete er sich auch, obwohl er die einflußreiche Stellung, die er unter Ludwig XI. besessen hatte, nicht ganz wieder zu erlangen vermochte, bis zum Tode Karls VIII. in hohem Ansetzn und behielt seine Autorität unter der Re¬ gierung Ludwigs XII., dem er ja schon, als derselbe noch Herzog von Or¬ leans gewesen war, gegen Anna von Beaujeu beigestanden hatte. Seine Memoiren hatte er nicht lange nach dem Tode Ludwigs XI. zu schreiben be¬ gonnen, hatte sie in den darauf folgenden Jahren nach und nach fortgesetzt und den Schluß während seiner letzten Lebenszeit ausgearbeitet. Er starb am 18. October 1511 auf seinem Schlosse zu Argentor. Ueberblicken wir diesen Lebenslauf noch einmal, so fällt uns wohl vor Allem die politische Charakterlosigkeit des Mannes, der als Schriftsteller so gut erzählt, ins Auge. Commynes unterstützt die legitime Gewalt und rebellirt gegen dieselbe; er gibt sich zum Werkzeug der häßlichsten Willkürherrschaft hin und kämpft für die freiere Entwickelung des ständischen Regiments: er zeigt sich als ein großartiger Staatsmann und ist doch fähig, beinahe jegliche politische Schlechtigkeit ohne den geringsten Scrupel auszuführen. Da erscheint freilich auffallend, daß die Memoiren eines solches Mannes die vorhin erwähnte Verbreitung und Werthschätzung gefunden haben. Und doch ist dies der Fall gewesen: die politischen und moralischen Grundsätze, die er ausspricht, sind mehrfach mit ähnlichen Sätzen von Tacitus und Thucydides zusammengestellt worden und Pierre Matthieu hat der Geschichte Lud¬ wigs XI., die er im Jahre 1610 veröffentlicht, eine Sentenzensammlung aus den Memoiren Commynes' als einen Schatz der höchsten Weisheit angehängt. Indessen der Gegensatz, der zwischen dem Staatsmann und dem Schrift¬ steller Commynes vorhanden zu sein scheint, verschwindet vollständig, wenn man nur eine nähere Prüfung der Memoiren unternimmt. Was zu¬ nächst die Glaubwürdigkeit derselben anbetrifft, so ist schon vor langen Jah¬ ren durch Leopold Ranke darauf hingedeutet worden, daß Commynes sich in dieser Hinsicht schwerlich habe bedeutendere Fehler zu Schulden kommen lassen*). Löbell hat diese Frage etwas später in einer eigenen Abhandlung ") Ranke, zur Kritik neuerer Geschichtschreiber, 1824, S. 169 ff.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123087/299>, abgerufen am 29.06.2024.