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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. I. Band.

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Während der letzten Lebensjahre Ludwigs XI. stand Commynes in ganz
besonders nahem Verhältniß zu demselben. Denn der König fing an zu
kränkeln, wurde bei der Schwäche, die ihn ergriff, immer mehr von arg¬
wöhnischer Furcht erfüllt, stieß jeden seiner Diener von sich zurück und wollte
oftmals nur den Herrn von Commynes um sich sehen, der nur allein mit
ihm speisen, mit ihm in einem Bette schlafen und ihn wie ein Kammerdiener
warten und pflegen mußte. Eine geraume Zeit hindurch lebte Ludwig so
gar auf Commynes' Schloß zu Argentor.

Nachdem der König gestorben war, trat eine höchst merkwürdige
Wendung in dem Schicksal Frankreichs und unseres Helden ein. Denn das
ganze Land sehnte sich, befreit von einer drückend herrischen und gewalt-
thätigen Regierung, nach freieren Institutionen und verfassungsmäßigen Zu¬
ständen. Hier war es, wie die neuesten Forschungen zeigen, wieder Com¬
mynes, der sich nicht blos der allgemeinen Strömung hingab, sondern der
höchst wahrscheinlich die liberalen Regungen dieser Zeit mit aller Kraft unter¬
stützte. Die Berufung der Reichsstände nach Tours im Jahre 1484 wurde
vermuthlich von Commynes veranlaßt, und alle jene Wünsche, nach deren
Erfüllung die Mehrzahl des französischen Volkes sich damals sehnte, da
Recht der Steuerbewilligung, die Disciplinirung und regelmäßige Besoldung
des stehenden Heeres, die Einheit der Gesetzgebung, eine Münzreform, die
Freiheit des Handels u. dergl. in. haben auch in dem Kopfe Commynes' ge¬
lebt und in diesem Manne den beredtesten Vertheidiger gefunden*).

Bald aber traten Ereignisse von ganz anderer Art in den Vor¬
dergrund. Karl VIII., der Nachfolger Ludwigs XI., war noch minder¬
jährig, und gegen die Regentschaft seiner Schwester Anna von Beaujeu er¬
hoben der Herzog Ludwig von Orleans und mehrere andere französische
Große die Waffen. Commynes betheiligte sich an dem Hochverrätherischen
Unternehmen dieser Herren, wurde, nachdem die Rebellen besiegt worden
waren, vor Gericht gezogen und verurtheilt. Eine Zeit lang mußte er in
dem eisernen Käsig, einer Erfindung Ludwigs XI., schmachten; dann blieb
er noch eine Weile auf seinen Gütern internirt. Und während so seine
öffentliche Stellung vernichtet wurde, erlitt er auch in seinem Privatbesitz die
empfindlichsten Einbußen, da jetzt die hochadlige Familie, auf deren Kosten
er früher mit Städten, Ländern und Schlössern beschenkt worden war, das
Haus de la Tremoille gegen ihn klagte und für sich günstige Aussprüche
des Gerichtes durchsetzte.

Trotzdem gelang es der ungemeinen Geschicklichkeit Commynes', nach
einigen Jahren die Gunst der Regierung wieder zu gewinnen, und als



*) KörvM ceo, La. II.

Während der letzten Lebensjahre Ludwigs XI. stand Commynes in ganz
besonders nahem Verhältniß zu demselben. Denn der König fing an zu
kränkeln, wurde bei der Schwäche, die ihn ergriff, immer mehr von arg¬
wöhnischer Furcht erfüllt, stieß jeden seiner Diener von sich zurück und wollte
oftmals nur den Herrn von Commynes um sich sehen, der nur allein mit
ihm speisen, mit ihm in einem Bette schlafen und ihn wie ein Kammerdiener
warten und pflegen mußte. Eine geraume Zeit hindurch lebte Ludwig so
gar auf Commynes' Schloß zu Argentor.

Nachdem der König gestorben war, trat eine höchst merkwürdige
Wendung in dem Schicksal Frankreichs und unseres Helden ein. Denn das
ganze Land sehnte sich, befreit von einer drückend herrischen und gewalt-
thätigen Regierung, nach freieren Institutionen und verfassungsmäßigen Zu¬
ständen. Hier war es, wie die neuesten Forschungen zeigen, wieder Com¬
mynes, der sich nicht blos der allgemeinen Strömung hingab, sondern der
höchst wahrscheinlich die liberalen Regungen dieser Zeit mit aller Kraft unter¬
stützte. Die Berufung der Reichsstände nach Tours im Jahre 1484 wurde
vermuthlich von Commynes veranlaßt, und alle jene Wünsche, nach deren
Erfüllung die Mehrzahl des französischen Volkes sich damals sehnte, da
Recht der Steuerbewilligung, die Disciplinirung und regelmäßige Besoldung
des stehenden Heeres, die Einheit der Gesetzgebung, eine Münzreform, die
Freiheit des Handels u. dergl. in. haben auch in dem Kopfe Commynes' ge¬
lebt und in diesem Manne den beredtesten Vertheidiger gefunden*).

Bald aber traten Ereignisse von ganz anderer Art in den Vor¬
dergrund. Karl VIII., der Nachfolger Ludwigs XI., war noch minder¬
jährig, und gegen die Regentschaft seiner Schwester Anna von Beaujeu er¬
hoben der Herzog Ludwig von Orleans und mehrere andere französische
Große die Waffen. Commynes betheiligte sich an dem Hochverrätherischen
Unternehmen dieser Herren, wurde, nachdem die Rebellen besiegt worden
waren, vor Gericht gezogen und verurtheilt. Eine Zeit lang mußte er in
dem eisernen Käsig, einer Erfindung Ludwigs XI., schmachten; dann blieb
er noch eine Weile auf seinen Gütern internirt. Und während so seine
öffentliche Stellung vernichtet wurde, erlitt er auch in seinem Privatbesitz die
empfindlichsten Einbußen, da jetzt die hochadlige Familie, auf deren Kosten
er früher mit Städten, Ländern und Schlössern beschenkt worden war, das
Haus de la Tremoille gegen ihn klagte und für sich günstige Aussprüche
des Gerichtes durchsetzte.

Trotzdem gelang es der ungemeinen Geschicklichkeit Commynes', nach
einigen Jahren die Gunst der Regierung wieder zu gewinnen, und als



*) KörvM ceo, La. II.
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[0298] Während der letzten Lebensjahre Ludwigs XI. stand Commynes in ganz besonders nahem Verhältniß zu demselben. Denn der König fing an zu kränkeln, wurde bei der Schwäche, die ihn ergriff, immer mehr von arg¬ wöhnischer Furcht erfüllt, stieß jeden seiner Diener von sich zurück und wollte oftmals nur den Herrn von Commynes um sich sehen, der nur allein mit ihm speisen, mit ihm in einem Bette schlafen und ihn wie ein Kammerdiener warten und pflegen mußte. Eine geraume Zeit hindurch lebte Ludwig so gar auf Commynes' Schloß zu Argentor. Nachdem der König gestorben war, trat eine höchst merkwürdige Wendung in dem Schicksal Frankreichs und unseres Helden ein. Denn das ganze Land sehnte sich, befreit von einer drückend herrischen und gewalt- thätigen Regierung, nach freieren Institutionen und verfassungsmäßigen Zu¬ ständen. Hier war es, wie die neuesten Forschungen zeigen, wieder Com¬ mynes, der sich nicht blos der allgemeinen Strömung hingab, sondern der höchst wahrscheinlich die liberalen Regungen dieser Zeit mit aller Kraft unter¬ stützte. Die Berufung der Reichsstände nach Tours im Jahre 1484 wurde vermuthlich von Commynes veranlaßt, und alle jene Wünsche, nach deren Erfüllung die Mehrzahl des französischen Volkes sich damals sehnte, da Recht der Steuerbewilligung, die Disciplinirung und regelmäßige Besoldung des stehenden Heeres, die Einheit der Gesetzgebung, eine Münzreform, die Freiheit des Handels u. dergl. in. haben auch in dem Kopfe Commynes' ge¬ lebt und in diesem Manne den beredtesten Vertheidiger gefunden*). Bald aber traten Ereignisse von ganz anderer Art in den Vor¬ dergrund. Karl VIII., der Nachfolger Ludwigs XI., war noch minder¬ jährig, und gegen die Regentschaft seiner Schwester Anna von Beaujeu er¬ hoben der Herzog Ludwig von Orleans und mehrere andere französische Große die Waffen. Commynes betheiligte sich an dem Hochverrätherischen Unternehmen dieser Herren, wurde, nachdem die Rebellen besiegt worden waren, vor Gericht gezogen und verurtheilt. Eine Zeit lang mußte er in dem eisernen Käsig, einer Erfindung Ludwigs XI., schmachten; dann blieb er noch eine Weile auf seinen Gütern internirt. Und während so seine öffentliche Stellung vernichtet wurde, erlitt er auch in seinem Privatbesitz die empfindlichsten Einbußen, da jetzt die hochadlige Familie, auf deren Kosten er früher mit Städten, Ländern und Schlössern beschenkt worden war, das Haus de la Tremoille gegen ihn klagte und für sich günstige Aussprüche des Gerichtes durchsetzte. Trotzdem gelang es der ungemeinen Geschicklichkeit Commynes', nach einigen Jahren die Gunst der Regierung wieder zu gewinnen, und als *) KörvM ceo, La. II.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123087/298>, abgerufen am 29.06.2024.