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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. I. Band.

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fug, , der sich damals vornehmlich auf deutschem Boden breit machte, wird
mit abschreckenden Farben geschildert; die constitutionelle Entwickelung Eng¬
lands wird mit außerordentlich warmen Worten hoch gepriesen; schlechte
Handlungen werden als die Ursache unglücklicher Schicksale, eines kummer¬
vollen Todes dargestellt, denn dies sei, nach dem Willen Gottes, der Lauf
der Welt -- kurz, wir erhalten -eine überreiche Fülle politischer Belehrung,
welche dem ersten Anscheine nach ausschließlich auf der Grundlage einer ge¬
sunden Moral und eines liberalen Geistes ruht, und wir begreifen, daß ge¬
rade die gebildeten Schichten der europäischen Nationen das Werk Commy-
nes' zu allen Zeiten hoch gehalten haben, und daß schon der Autor selber
von seiner Arbeit sagte: je Ms mon eomxte yue bestes, ne simples gevs
ne s'amuseront xoint ü, lire ees N-Smoires; mais xrivees vu aultres Zeus ac
cour trouveroiit cle bons aävertissemcmts, ^ mon aävis").

Nun hat es aber trotz alles Lobes auch an scharfem Tadel gegen Com-
mynes niemals gefehlt. Sein Leben bot reichen Stoff zu bitteren Klagen,
seine Treue als Geschichtsschreiber wurde verdächtigt und selbst seine Grund¬
sätze, die ihm soviel Anerkennung eingetragen haben, schienen von anstößigen
Elementen nicht frei zu sein. Es fragt sich, welches Urtheil wir diesen ver¬
schiedenartigen Ansichten gegenüber zu fällen, wie wir heut den großen Chro¬
nisten aufzufassen haben.

Hier ist in erster Linie wichtig eine Erinnerung an jenen Fürsten, den
Cvmmynes geradezu zum Helden seines Werkes gemacht hat, an König Lud¬
wig XI. von Frankreich. Als dieser Herrscher im Jahre 1461 den Thron
bestieg, befand sich der französische Staat in ungemein schwieriger Lage.
Denn die Engländer, die noch bis vor einem Menschenalter sehr umfang¬
reiche Provinzen auf dem Festlande besessen und alle Kräfte des französischen
Königthums paralysirt hatten, waren zwar mit Hilfe einer nachdrücklichen
Erhebung der patriotischen Jnstincte besiegt und beinahe ganz von dem
Neichsboden verdrängt worden; auch war nach der Beendigung des Kampfes
durch das weise Regiment Karls VII. die Ruhe und Ordnung im Innern
des Staates in erfreulicher Art wiederhergestellt worden; noch aber war
übrig, wenn anders die Einheit und der Bestand des Reiches wirklich ge-
sichert werden sollten, die überaus große Macht der vornehmsten Kron¬
vasallen auf ein bescheideneres Maß einzuschränken. Besonders dringlich war
die Auseinandersetzung mit Burgund, dessen damaliger Herzog. Philipp der
Gute, so gewaltig dastand, daß es nach seinem eigenen Worte nur von ihm
abhing, ein König zu werden. Diese Aufgabe nahm jetzt Ludwig XI. in die
Hand und löste sie mit außerordentlichem Geschick. Jede gefährliche Ver-



') Aömou'of alö Lowrn^lips, v<1. xar Mio. vnpout, I, 2K8,

fug, , der sich damals vornehmlich auf deutschem Boden breit machte, wird
mit abschreckenden Farben geschildert; die constitutionelle Entwickelung Eng¬
lands wird mit außerordentlich warmen Worten hoch gepriesen; schlechte
Handlungen werden als die Ursache unglücklicher Schicksale, eines kummer¬
vollen Todes dargestellt, denn dies sei, nach dem Willen Gottes, der Lauf
der Welt — kurz, wir erhalten -eine überreiche Fülle politischer Belehrung,
welche dem ersten Anscheine nach ausschließlich auf der Grundlage einer ge¬
sunden Moral und eines liberalen Geistes ruht, und wir begreifen, daß ge¬
rade die gebildeten Schichten der europäischen Nationen das Werk Commy-
nes' zu allen Zeiten hoch gehalten haben, und daß schon der Autor selber
von seiner Arbeit sagte: je Ms mon eomxte yue bestes, ne simples gevs
ne s'amuseront xoint ü, lire ees N-Smoires; mais xrivees vu aultres Zeus ac
cour trouveroiit cle bons aävertissemcmts, ^ mon aävis").

Nun hat es aber trotz alles Lobes auch an scharfem Tadel gegen Com-
mynes niemals gefehlt. Sein Leben bot reichen Stoff zu bitteren Klagen,
seine Treue als Geschichtsschreiber wurde verdächtigt und selbst seine Grund¬
sätze, die ihm soviel Anerkennung eingetragen haben, schienen von anstößigen
Elementen nicht frei zu sein. Es fragt sich, welches Urtheil wir diesen ver¬
schiedenartigen Ansichten gegenüber zu fällen, wie wir heut den großen Chro¬
nisten aufzufassen haben.

Hier ist in erster Linie wichtig eine Erinnerung an jenen Fürsten, den
Cvmmynes geradezu zum Helden seines Werkes gemacht hat, an König Lud¬
wig XI. von Frankreich. Als dieser Herrscher im Jahre 1461 den Thron
bestieg, befand sich der französische Staat in ungemein schwieriger Lage.
Denn die Engländer, die noch bis vor einem Menschenalter sehr umfang¬
reiche Provinzen auf dem Festlande besessen und alle Kräfte des französischen
Königthums paralysirt hatten, waren zwar mit Hilfe einer nachdrücklichen
Erhebung der patriotischen Jnstincte besiegt und beinahe ganz von dem
Neichsboden verdrängt worden; auch war nach der Beendigung des Kampfes
durch das weise Regiment Karls VII. die Ruhe und Ordnung im Innern
des Staates in erfreulicher Art wiederhergestellt worden; noch aber war
übrig, wenn anders die Einheit und der Bestand des Reiches wirklich ge-
sichert werden sollten, die überaus große Macht der vornehmsten Kron¬
vasallen auf ein bescheideneres Maß einzuschränken. Besonders dringlich war
die Auseinandersetzung mit Burgund, dessen damaliger Herzog. Philipp der
Gute, so gewaltig dastand, daß es nach seinem eigenen Worte nur von ihm
abhing, ein König zu werden. Diese Aufgabe nahm jetzt Ludwig XI. in die
Hand und löste sie mit außerordentlichem Geschick. Jede gefährliche Ver-



') Aömou'of alö Lowrn^lips, v<1. xar Mio. vnpout, I, 2K8,
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[0293] fug, , der sich damals vornehmlich auf deutschem Boden breit machte, wird mit abschreckenden Farben geschildert; die constitutionelle Entwickelung Eng¬ lands wird mit außerordentlich warmen Worten hoch gepriesen; schlechte Handlungen werden als die Ursache unglücklicher Schicksale, eines kummer¬ vollen Todes dargestellt, denn dies sei, nach dem Willen Gottes, der Lauf der Welt — kurz, wir erhalten -eine überreiche Fülle politischer Belehrung, welche dem ersten Anscheine nach ausschließlich auf der Grundlage einer ge¬ sunden Moral und eines liberalen Geistes ruht, und wir begreifen, daß ge¬ rade die gebildeten Schichten der europäischen Nationen das Werk Commy- nes' zu allen Zeiten hoch gehalten haben, und daß schon der Autor selber von seiner Arbeit sagte: je Ms mon eomxte yue bestes, ne simples gevs ne s'amuseront xoint ü, lire ees N-Smoires; mais xrivees vu aultres Zeus ac cour trouveroiit cle bons aävertissemcmts, ^ mon aävis"). Nun hat es aber trotz alles Lobes auch an scharfem Tadel gegen Com- mynes niemals gefehlt. Sein Leben bot reichen Stoff zu bitteren Klagen, seine Treue als Geschichtsschreiber wurde verdächtigt und selbst seine Grund¬ sätze, die ihm soviel Anerkennung eingetragen haben, schienen von anstößigen Elementen nicht frei zu sein. Es fragt sich, welches Urtheil wir diesen ver¬ schiedenartigen Ansichten gegenüber zu fällen, wie wir heut den großen Chro¬ nisten aufzufassen haben. Hier ist in erster Linie wichtig eine Erinnerung an jenen Fürsten, den Cvmmynes geradezu zum Helden seines Werkes gemacht hat, an König Lud¬ wig XI. von Frankreich. Als dieser Herrscher im Jahre 1461 den Thron bestieg, befand sich der französische Staat in ungemein schwieriger Lage. Denn die Engländer, die noch bis vor einem Menschenalter sehr umfang¬ reiche Provinzen auf dem Festlande besessen und alle Kräfte des französischen Königthums paralysirt hatten, waren zwar mit Hilfe einer nachdrücklichen Erhebung der patriotischen Jnstincte besiegt und beinahe ganz von dem Neichsboden verdrängt worden; auch war nach der Beendigung des Kampfes durch das weise Regiment Karls VII. die Ruhe und Ordnung im Innern des Staates in erfreulicher Art wiederhergestellt worden; noch aber war übrig, wenn anders die Einheit und der Bestand des Reiches wirklich ge- sichert werden sollten, die überaus große Macht der vornehmsten Kron¬ vasallen auf ein bescheideneres Maß einzuschränken. Besonders dringlich war die Auseinandersetzung mit Burgund, dessen damaliger Herzog. Philipp der Gute, so gewaltig dastand, daß es nach seinem eigenen Worte nur von ihm abhing, ein König zu werden. Diese Aufgabe nahm jetzt Ludwig XI. in die Hand und löste sie mit außerordentlichem Geschick. Jede gefährliche Ver- ') Aömou'of alö Lowrn^lips, v<1. xar Mio. vnpout, I, 2K8,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123087/293>, abgerufen am 29.06.2024.