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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. I. Band.

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keit gegen die nationalen Wünsche, welcher in der Denkschrift der Minister¬
majorität aufgestellt ist. Die Redner toben gegen die abgetretene Minorität,
insultiren den abwesenden, überdies schwer kranken Exminister Berger, sticheln
auf den Kanzler, declamiren oder witzeln, enthalten sich aber mit äußerster
Consequenz eines jeden Gedankens, welcher die Sache, um die es sich han¬
delt, fördern könnte. Sie betheuern die versöhnlichsten Gesinnungen und
leugnen heftig, daß das Beharren auf ihrem Standpunkte nicht nur die bis
jetzt Ferngebliebenen nicht heranlocken, sondern auch noch Andere vertreiben
werde, und dann hält der Berichterstatter den Deutschtirolern vor, daß sie
anständigerweise die Versammlung verlassen müßten, was sich diese nicht
zweimal sagen lassen. Ja, diese Reden, unerquicklich wie der Nebelwind,
machen den Widerwillen des Volkes gegen "die Advocaten und Doctoren"
so ganz begreiflich. Wie ein Proceß wird die Frage der Existenz des Staa¬
tes behandelt. Die Partei beweist aufs umständlichste, daß sie rechtlich nicht
gezwungen werden könne, in irgend einem Punkte nachzugeben und damit
meint sie genug gethan zu haben. l?sreg,t inuridu8. Der alte Baron Lichten-
fels im Herrenhause deducirte sogar, daß der Wortlaut des Octoberdiploms,
"die Landtage haben Mitglieder zum Reichsrathe zu entsenden", wohl die
Pflicht der Landtage ausspreche, aber keineswegs ein Recht derselben. Und
mit solchen rabulistischen Künsten meint man Schäden heilen zu können,
welche weiter und weiter fressend das Leben bedrohen!

Der Reichsrath und das auf ihn sich, stützende Ministerium laufen Ge¬
fahr, am Doktrinarismus zu Grunde zu gehen. Die Regierung und die
große Mehrheit der Volksvertretung sind eines Herzens und Sinnes, wir
haben eine constitutionelle Musterwirthschaft. Aber diese Volksvertretung
vertritt nur einen Bruchtheil des Volkes, der größere durfte oder wollte mit
dem Wahlact nichts zu schaffen haben oder wurde überstimmt, und während
die Abgeordneten in der Hauptstadt sitzen, nur noch sich selbst und ihre
Meinungsgenossen hören, gehen selbst in denjenigen Kreisen, von welchen sie
wirklich deputirt wurden, Wandlungen vor sich, von welchen sie in ihrer
Atmosphäre nichts gewahr werden. Plötzlich wird es dann klar, daß ein
solches Haus nur noch im eigenen Namen spricht und nur noch eine illusorische
Stütze gewähren kann. Giskra, der jetzt für die Seele des Cabinets gilt, möge
sich vorsehen, daß er nicht eines schönen Morgens aus dem Schlafe geweckt
werde durch Stimmen, welche so vertraut und befreundet klingen, aber nicht
mehr rufen: "Heil dem unbeugsamen Staatsmanne, dem Vater des Vater¬
landes!" sondern: "Fort mit dem eigensinnigen, kurzsichtigen Parteimanne,
welcher uns ins Verderben führen will!" So haben sie es Schmerling ge¬
macht und Benedek und noch manchem vor diesen.

Die "Seele des Cabinets" ist zwar vielleicht zu viel gesagt, denn schon


keit gegen die nationalen Wünsche, welcher in der Denkschrift der Minister¬
majorität aufgestellt ist. Die Redner toben gegen die abgetretene Minorität,
insultiren den abwesenden, überdies schwer kranken Exminister Berger, sticheln
auf den Kanzler, declamiren oder witzeln, enthalten sich aber mit äußerster
Consequenz eines jeden Gedankens, welcher die Sache, um die es sich han¬
delt, fördern könnte. Sie betheuern die versöhnlichsten Gesinnungen und
leugnen heftig, daß das Beharren auf ihrem Standpunkte nicht nur die bis
jetzt Ferngebliebenen nicht heranlocken, sondern auch noch Andere vertreiben
werde, und dann hält der Berichterstatter den Deutschtirolern vor, daß sie
anständigerweise die Versammlung verlassen müßten, was sich diese nicht
zweimal sagen lassen. Ja, diese Reden, unerquicklich wie der Nebelwind,
machen den Widerwillen des Volkes gegen „die Advocaten und Doctoren"
so ganz begreiflich. Wie ein Proceß wird die Frage der Existenz des Staa¬
tes behandelt. Die Partei beweist aufs umständlichste, daß sie rechtlich nicht
gezwungen werden könne, in irgend einem Punkte nachzugeben und damit
meint sie genug gethan zu haben. l?sreg,t inuridu8. Der alte Baron Lichten-
fels im Herrenhause deducirte sogar, daß der Wortlaut des Octoberdiploms,
„die Landtage haben Mitglieder zum Reichsrathe zu entsenden", wohl die
Pflicht der Landtage ausspreche, aber keineswegs ein Recht derselben. Und
mit solchen rabulistischen Künsten meint man Schäden heilen zu können,
welche weiter und weiter fressend das Leben bedrohen!

Der Reichsrath und das auf ihn sich, stützende Ministerium laufen Ge¬
fahr, am Doktrinarismus zu Grunde zu gehen. Die Regierung und die
große Mehrheit der Volksvertretung sind eines Herzens und Sinnes, wir
haben eine constitutionelle Musterwirthschaft. Aber diese Volksvertretung
vertritt nur einen Bruchtheil des Volkes, der größere durfte oder wollte mit
dem Wahlact nichts zu schaffen haben oder wurde überstimmt, und während
die Abgeordneten in der Hauptstadt sitzen, nur noch sich selbst und ihre
Meinungsgenossen hören, gehen selbst in denjenigen Kreisen, von welchen sie
wirklich deputirt wurden, Wandlungen vor sich, von welchen sie in ihrer
Atmosphäre nichts gewahr werden. Plötzlich wird es dann klar, daß ein
solches Haus nur noch im eigenen Namen spricht und nur noch eine illusorische
Stütze gewähren kann. Giskra, der jetzt für die Seele des Cabinets gilt, möge
sich vorsehen, daß er nicht eines schönen Morgens aus dem Schlafe geweckt
werde durch Stimmen, welche so vertraut und befreundet klingen, aber nicht
mehr rufen: „Heil dem unbeugsamen Staatsmanne, dem Vater des Vater¬
landes!" sondern: „Fort mit dem eigensinnigen, kurzsichtigen Parteimanne,
welcher uns ins Verderben führen will!" So haben sie es Schmerling ge¬
macht und Benedek und noch manchem vor diesen.

Die „Seele des Cabinets" ist zwar vielleicht zu viel gesagt, denn schon


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123087/274>, abgerufen am 29.06.2024.