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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. I. Band.

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dem Augenblicke, wo er von dem entsetzlich routinemäßigen und Schablonen¬
haften Unterrichte des Lyceums glücklich befreit ist. Wohin soll er sich wen¬
den ? Die Vorlesungen der Facultät bieten ihm keine hilfreiche Hand, um ihn
in sein erwähltes Gebiet einzuführen, ihm sein Material anzuweisen: sie sind
ja auf allgemeines Interesse berechnet, und können dem nach fachmäßiger Be¬
lehrung Strebenden nur äußerst wenig bieten. Soll er sich in die Levis vor-
male einsperren? Dann verliert er aber auf drei Jahre sein köstlichstes Gut,
seine Freiheit; drei Jahre lang wird er noch wie ein Schuljunge bewacht und
zum Lernen der vorgeschriebenen Lection angehalten ; hier wird er zum Lehrer
erzogen, zum Lehrer nach dem Herzen der Universität, die nichts so sehr haßt
als eben das, wonach er sich sehnt, die Wissenschaft um der Wissenschaft willen
"Um alles in der Welt keine Gelehrsamkeit" wird ihm sein Director zurufen,
erschrocken über den Forschungseifer des neuen Ankömmlings; "um alles in
der Welt aber ja keine Geschichte, historisches Studium ist laboris 5uM."

So wird er gezogen, gedreht und zurecht geschroben, und nach einiger
Zeit wird er auch sein Lied pfeifen können von der französischen Eleganz
und Klarheit und von der Hruäition g.IIöMÄväö, die ein sogar grausig ab¬
schreckend Ding ist. vor welchem gallischer von sens ein Kreuz schlägt. Auch er.
der so redlich strebte, ist untreu geworden, bange gemacht durch falsche Vor¬
spiegelungen vor der wahren, selbstlosen Gelehrsamkeit! Wenn er in späteren
Jahren in seinem Urtheil nun selbständig geworden, doch wieder seiner ersten,
lange mit Gewalt erstickten Neigung nachgeht und ein gelehrtes Werk schreibt,
ist es dann ein Wunder, wenn er nicht weiß, was vor und neben ihm auf
demselben Felde geschaffen worden, ist es erstaunlich, wenn er sich mühsam
und fruchtlos einen Weg durch 'struppiges Dickicht zu schlagen strebt, wäh¬
rend ganz in seiner Nähe eine breite sichere und vielbegangene Fahrstraße
führt, die ihn bis zu dem Ziele seines Suchens bringen wird, ohne daß er
von ihr weiß? -- Daher kommt es, daß in Frankreich von einer Gemeinsam¬
keit der Arbeit kaum die Rede sein kann. Jeder setzt an. wo ihm gut dünkt;
mancher glaubt ein Entdecker zu sein. ungeahnte Weisheit vorzutragen, wäh¬
rend er nur Bekanntes wiederholt; ein anderer dagegen wähnt aus wenigen
vorliegenden Thatsachen schon das Facit ziehen zu können, und in stolzer
Verachtung der "Mikrographen" und der niedrigen Handwerker der Wissen¬
schaft baut er ein kühnes System auf, das aber sofort zusammenfallen muß,
weil er auf ungenügender Grundlage stand. Man werfe nur einen Blick in
die Publicationen der gelehrten Gesellschaften der Provinz: in glücklicher
Harmlosigkeit ignoriren sie, was nicht unmittelbar unter ihren Augen ermit¬
telt worden ist. Dasselbe gilt oft.sogar von den Arbeiten academischer Lehrer
aus der Provinz und selbst von vielen in Paris erscheinenden Werken.

Unsere Behauptung, daß in Frankreich bisher Philologie nicht studirt


dem Augenblicke, wo er von dem entsetzlich routinemäßigen und Schablonen¬
haften Unterrichte des Lyceums glücklich befreit ist. Wohin soll er sich wen¬
den ? Die Vorlesungen der Facultät bieten ihm keine hilfreiche Hand, um ihn
in sein erwähltes Gebiet einzuführen, ihm sein Material anzuweisen: sie sind
ja auf allgemeines Interesse berechnet, und können dem nach fachmäßiger Be¬
lehrung Strebenden nur äußerst wenig bieten. Soll er sich in die Levis vor-
male einsperren? Dann verliert er aber auf drei Jahre sein köstlichstes Gut,
seine Freiheit; drei Jahre lang wird er noch wie ein Schuljunge bewacht und
zum Lernen der vorgeschriebenen Lection angehalten ; hier wird er zum Lehrer
erzogen, zum Lehrer nach dem Herzen der Universität, die nichts so sehr haßt
als eben das, wonach er sich sehnt, die Wissenschaft um der Wissenschaft willen
„Um alles in der Welt keine Gelehrsamkeit" wird ihm sein Director zurufen,
erschrocken über den Forschungseifer des neuen Ankömmlings; „um alles in
der Welt aber ja keine Geschichte, historisches Studium ist laboris 5uM."

So wird er gezogen, gedreht und zurecht geschroben, und nach einiger
Zeit wird er auch sein Lied pfeifen können von der französischen Eleganz
und Klarheit und von der Hruäition g.IIöMÄväö, die ein sogar grausig ab¬
schreckend Ding ist. vor welchem gallischer von sens ein Kreuz schlägt. Auch er.
der so redlich strebte, ist untreu geworden, bange gemacht durch falsche Vor¬
spiegelungen vor der wahren, selbstlosen Gelehrsamkeit! Wenn er in späteren
Jahren in seinem Urtheil nun selbständig geworden, doch wieder seiner ersten,
lange mit Gewalt erstickten Neigung nachgeht und ein gelehrtes Werk schreibt,
ist es dann ein Wunder, wenn er nicht weiß, was vor und neben ihm auf
demselben Felde geschaffen worden, ist es erstaunlich, wenn er sich mühsam
und fruchtlos einen Weg durch 'struppiges Dickicht zu schlagen strebt, wäh¬
rend ganz in seiner Nähe eine breite sichere und vielbegangene Fahrstraße
führt, die ihn bis zu dem Ziele seines Suchens bringen wird, ohne daß er
von ihr weiß? — Daher kommt es, daß in Frankreich von einer Gemeinsam¬
keit der Arbeit kaum die Rede sein kann. Jeder setzt an. wo ihm gut dünkt;
mancher glaubt ein Entdecker zu sein. ungeahnte Weisheit vorzutragen, wäh¬
rend er nur Bekanntes wiederholt; ein anderer dagegen wähnt aus wenigen
vorliegenden Thatsachen schon das Facit ziehen zu können, und in stolzer
Verachtung der „Mikrographen" und der niedrigen Handwerker der Wissen¬
schaft baut er ein kühnes System auf, das aber sofort zusammenfallen muß,
weil er auf ungenügender Grundlage stand. Man werfe nur einen Blick in
die Publicationen der gelehrten Gesellschaften der Provinz: in glücklicher
Harmlosigkeit ignoriren sie, was nicht unmittelbar unter ihren Augen ermit¬
telt worden ist. Dasselbe gilt oft.sogar von den Arbeiten academischer Lehrer
aus der Provinz und selbst von vielen in Paris erscheinenden Werken.

Unsere Behauptung, daß in Frankreich bisher Philologie nicht studirt


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123087/259>, abgerufen am 29.06.2024.