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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. I. Band.

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mehr wie jetzt "Landboten" seien, und Tirol durch die Zustimmung zu di-
recten Wahlen auf das Recht verzichten würde, sich als historisch-politische
Individualität bei den Angelegenheiten des Reiches zu betheiligen. Pro¬
fessor Harum hielt diesem "Nebelbilde" aus der Vergangenheit die durch die
Reichsverfassung und die Landesordnung rechtlich geordnete Stellung Tirols
entgegen, die im Verwaltungsorganismus, dem eigenen Landeshaushalt, einer
Reihe von Landesinstituten und der Durchführung der Principien des Fe¬
bruargrundgesetzes ihren Ausdruck finde und durch die Vornahme der Land¬
tags- und Reichstagswahlen anerkannt werde. Der Landtag sei verpflichtet,
die im Grundgesetze festgesetzte Anzahl von Mitgliedern in den Reichsrath
zu entsenden. Dafür, daß dieser kein Landbotenhaus, sondern eine wirkliche
Volksvertretung sei, spreche einerseits der Umstand, daß daselbst nicht nach
Ländercurien abgestimmt werde, andererseits die schon im Gesetze über die
Neichsvertretung vorgesehene Anordnung unmittelbarer Reichsrathswahlen,
falls die Beschickung des Abgeordnetenhauses durch einen Landtag nicht zum
Vollzuge käme. Die vorgeschlagene Aenderung sei eine Existenzbedingung
des Reiches, das eine unabhängige selbständige Vertretung haben müsse und
sich diese nicht durch das Belieben des einen oder anderen Landtags ver¬
kümmern lassen dürfe. Dieser Ruf nach Einigung löste den Ultramontanen
Lorenz und Greuter die Zunge über die Gründe ihres Widerstandes, nämlich
die Glaubenseinheit, die Gesetze in Kirchen und Schulangelegenheiten sowie
die Beschränkung der katholischen Vereine; Ansichten und Sprache trugen den
Stempel ihrer Bildung. Greuter insbesondere meinte, um die Freiheit in
Oestreich, wie sie jetzt factisch bestehe, sei kein Volk zu beneiden, denn wenn
zwei oder drei bei einem Glase Wein beisammensäßen, käme der Gensd'arm in
ihre Mitte. Am schlimmsten vermerkte er den überwiegenden Einfluß der
deutschliberalen Partei, welcher er Unterdrückung aller Nationalitäten durch
Centralisirung vorwarf, "um einen Nationalgeist herauszutreten." Sein
Ideal des "wahren" Oestreich war die Selbstregierung aller nationalen und
und autonomen Parteien, wobei er dann wunderlich genug die Einführung
directer Landtagswahlen mit Beseitigung der Gruppen bevorwortete, nebenbei
aber die alten Stände Tirols pries, die aus dem Charakter des Volkes hervor¬
gewachsen und durch Jahrhunderte befestigt seien. Dies hatte ihm wohl der
Spott seines Collegen im östreichischen Reichsrathe, I)r. Schindler, angethan,
der das Tiroler Landrecht vollständig ins Reich der Fabel verwies. Dann
deducirte Giovanelli, daß vor 800 Jahren die Grafen von Habsburg mit
den tiroler Ständen (die, beiläufig gesagt, damals noch gar nicht bestanden)
einen Bund auf ewige Zeiten geschloffen habe, und daß Karl VI. in der
pragmatischen Sanction sowie Franz Josef im Octoberdiplom den Satz fest¬
gehalten hätten, "daß die einzelnen Länder ein unzertrennbares Ganze unter


mehr wie jetzt „Landboten" seien, und Tirol durch die Zustimmung zu di-
recten Wahlen auf das Recht verzichten würde, sich als historisch-politische
Individualität bei den Angelegenheiten des Reiches zu betheiligen. Pro¬
fessor Harum hielt diesem „Nebelbilde" aus der Vergangenheit die durch die
Reichsverfassung und die Landesordnung rechtlich geordnete Stellung Tirols
entgegen, die im Verwaltungsorganismus, dem eigenen Landeshaushalt, einer
Reihe von Landesinstituten und der Durchführung der Principien des Fe¬
bruargrundgesetzes ihren Ausdruck finde und durch die Vornahme der Land¬
tags- und Reichstagswahlen anerkannt werde. Der Landtag sei verpflichtet,
die im Grundgesetze festgesetzte Anzahl von Mitgliedern in den Reichsrath
zu entsenden. Dafür, daß dieser kein Landbotenhaus, sondern eine wirkliche
Volksvertretung sei, spreche einerseits der Umstand, daß daselbst nicht nach
Ländercurien abgestimmt werde, andererseits die schon im Gesetze über die
Neichsvertretung vorgesehene Anordnung unmittelbarer Reichsrathswahlen,
falls die Beschickung des Abgeordnetenhauses durch einen Landtag nicht zum
Vollzuge käme. Die vorgeschlagene Aenderung sei eine Existenzbedingung
des Reiches, das eine unabhängige selbständige Vertretung haben müsse und
sich diese nicht durch das Belieben des einen oder anderen Landtags ver¬
kümmern lassen dürfe. Dieser Ruf nach Einigung löste den Ultramontanen
Lorenz und Greuter die Zunge über die Gründe ihres Widerstandes, nämlich
die Glaubenseinheit, die Gesetze in Kirchen und Schulangelegenheiten sowie
die Beschränkung der katholischen Vereine; Ansichten und Sprache trugen den
Stempel ihrer Bildung. Greuter insbesondere meinte, um die Freiheit in
Oestreich, wie sie jetzt factisch bestehe, sei kein Volk zu beneiden, denn wenn
zwei oder drei bei einem Glase Wein beisammensäßen, käme der Gensd'arm in
ihre Mitte. Am schlimmsten vermerkte er den überwiegenden Einfluß der
deutschliberalen Partei, welcher er Unterdrückung aller Nationalitäten durch
Centralisirung vorwarf, „um einen Nationalgeist herauszutreten." Sein
Ideal des „wahren" Oestreich war die Selbstregierung aller nationalen und
und autonomen Parteien, wobei er dann wunderlich genug die Einführung
directer Landtagswahlen mit Beseitigung der Gruppen bevorwortete, nebenbei
aber die alten Stände Tirols pries, die aus dem Charakter des Volkes hervor¬
gewachsen und durch Jahrhunderte befestigt seien. Dies hatte ihm wohl der
Spott seines Collegen im östreichischen Reichsrathe, I)r. Schindler, angethan,
der das Tiroler Landrecht vollständig ins Reich der Fabel verwies. Dann
deducirte Giovanelli, daß vor 800 Jahren die Grafen von Habsburg mit
den tiroler Ständen (die, beiläufig gesagt, damals noch gar nicht bestanden)
einen Bund auf ewige Zeiten geschloffen habe, und daß Karl VI. in der
pragmatischen Sanction sowie Franz Josef im Octoberdiplom den Satz fest¬
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[0236] mehr wie jetzt „Landboten" seien, und Tirol durch die Zustimmung zu di- recten Wahlen auf das Recht verzichten würde, sich als historisch-politische Individualität bei den Angelegenheiten des Reiches zu betheiligen. Pro¬ fessor Harum hielt diesem „Nebelbilde" aus der Vergangenheit die durch die Reichsverfassung und die Landesordnung rechtlich geordnete Stellung Tirols entgegen, die im Verwaltungsorganismus, dem eigenen Landeshaushalt, einer Reihe von Landesinstituten und der Durchführung der Principien des Fe¬ bruargrundgesetzes ihren Ausdruck finde und durch die Vornahme der Land¬ tags- und Reichstagswahlen anerkannt werde. Der Landtag sei verpflichtet, die im Grundgesetze festgesetzte Anzahl von Mitgliedern in den Reichsrath zu entsenden. Dafür, daß dieser kein Landbotenhaus, sondern eine wirkliche Volksvertretung sei, spreche einerseits der Umstand, daß daselbst nicht nach Ländercurien abgestimmt werde, andererseits die schon im Gesetze über die Neichsvertretung vorgesehene Anordnung unmittelbarer Reichsrathswahlen, falls die Beschickung des Abgeordnetenhauses durch einen Landtag nicht zum Vollzuge käme. Die vorgeschlagene Aenderung sei eine Existenzbedingung des Reiches, das eine unabhängige selbständige Vertretung haben müsse und sich diese nicht durch das Belieben des einen oder anderen Landtags ver¬ kümmern lassen dürfe. Dieser Ruf nach Einigung löste den Ultramontanen Lorenz und Greuter die Zunge über die Gründe ihres Widerstandes, nämlich die Glaubenseinheit, die Gesetze in Kirchen und Schulangelegenheiten sowie die Beschränkung der katholischen Vereine; Ansichten und Sprache trugen den Stempel ihrer Bildung. Greuter insbesondere meinte, um die Freiheit in Oestreich, wie sie jetzt factisch bestehe, sei kein Volk zu beneiden, denn wenn zwei oder drei bei einem Glase Wein beisammensäßen, käme der Gensd'arm in ihre Mitte. Am schlimmsten vermerkte er den überwiegenden Einfluß der deutschliberalen Partei, welcher er Unterdrückung aller Nationalitäten durch Centralisirung vorwarf, „um einen Nationalgeist herauszutreten." Sein Ideal des „wahren" Oestreich war die Selbstregierung aller nationalen und und autonomen Parteien, wobei er dann wunderlich genug die Einführung directer Landtagswahlen mit Beseitigung der Gruppen bevorwortete, nebenbei aber die alten Stände Tirols pries, die aus dem Charakter des Volkes hervor¬ gewachsen und durch Jahrhunderte befestigt seien. Dies hatte ihm wohl der Spott seines Collegen im östreichischen Reichsrathe, I)r. Schindler, angethan, der das Tiroler Landrecht vollständig ins Reich der Fabel verwies. Dann deducirte Giovanelli, daß vor 800 Jahren die Grafen von Habsburg mit den tiroler Ständen (die, beiläufig gesagt, damals noch gar nicht bestanden) einen Bund auf ewige Zeiten geschloffen habe, und daß Karl VI. in der pragmatischen Sanction sowie Franz Josef im Octoberdiplom den Satz fest¬ gehalten hätten, „daß die einzelnen Länder ein unzertrennbares Ganze unter

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123087/236>, abgerufen am 26.06.2024.