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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. I. Band.

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des Angriffes von Ligny selbst hat Charras überzeugend erklärt, besonders
(S. 134) aus einem bis dahin unbekannt gebliebenen Schreiben des Kaisers
an Grouchy, welches erst nach acht Uhr Morgens dictirt ist und von zwei
unrichtigen Voraussetzungen ausgeht. Denn Napoleon spricht in demselben
einerseits aus: "die Preußen können uns nicht mehr als 40,000 Mann ent¬
gegenstellen" und glaubt anderseits ohne ernstlichen Kampf am folgenden
Tage in Brüssel einziehen zu können. Zu seinem großen Schaden ist unserm
Autor, der eine frühere Auflage des Buches benutzte, dies Schreiben ent¬
gangen; dagegen hat er das gleichzeitig an Ney dictirte gekannt, das Charras
ebenfalls (S. 152) bringt und aus welchem erhellt, daß Napoleon erst "um drei
Uhr Nachmittags oder am Abend", also in aller Gemächlichkeit, seine weiteren
Entschließungen zu fassen gedachte.

Mit allen vorurtheilslosen Beurtheilern stimmt auch Chesney darin über¬
ein, daß der erprobte Eroberer den 17. Juni 1813 vergeudet hat. Mit Bern¬
hardt speciell (I, 304) trifft er sich in dem Nachweise der irrigen Abfindung
Grouchy's zur Aufsuchung und Verfolgung der Preußen, welche "bereits
einen Vorsprung von zehn Stunden hatten". Eine andere Beobachtung, die
Bernhardt (I, 304) nur andeutet, führt er näher und in wirksamer Weise
aus. Er macht nämlich darauf aufmerksam, daß Napoleon unmittelbar nach¬
dem er Grouchy zur Aufsuchung der Preußen in der Richtung von Namur
entsendet hatte, nach Marbais fuhr, über welches Dorf die Straße nach Tilly
und Wavre führte, auf der die Preußen wirklich abgezogen waren. Von
Marbais aus hätte aber nur der Kaiser selbst, dem drei Reiterdivisionen*)
unter seinen directen Befehlen zur Verfügung standen, und nicht der nach
Osten entsendete Grouchy, die Recognoscirung auf dieser Straße vornehmen
können und müssen. Erhellt doch aus einem seiner Briefe von demselben
17. Mittags, daß er mindestens die Möglichkeit einer Vereinigungsabstcht
der preußischen mit der englischen Armee (-- on ils veulerlt Sö r6unir enoore
xour couvrir Lruz-Mös) ins Auge gefaßt hatte!

Auch für die Entscheidungsschlacht selbst stimmt der neue Forscher den
unbefangensten unter den früheren darin bei, daß die tactische Verwendung
der Truppen, in welcher Wellington so sehr excellirte, von Seiten Napoleon's
durchaus ungenügend gewesen sei. Besonders verhängnißvoll erscheint ihm
dieser Fehler nach der vierten Attake, als Ney. der schon die englische Schlacht¬
reihe durchbrochen hatte, ohne Unterstützung blieb. Chesney meint am Ende,
jeder andere General, der an diesem Tage wie Napoleon gehandelt hätte,
würde wegen seiner Tactik eben so einstimmigen Tadel erfahren, als wegen



Charras S84 sieht nur eine inÄolouts uSMAMos Napoleons darin, daß er nicht schon
vor der unnützen Morgenrevue diese Reiter in den Halbkreis nach Norden entsendete.

des Angriffes von Ligny selbst hat Charras überzeugend erklärt, besonders
(S. 134) aus einem bis dahin unbekannt gebliebenen Schreiben des Kaisers
an Grouchy, welches erst nach acht Uhr Morgens dictirt ist und von zwei
unrichtigen Voraussetzungen ausgeht. Denn Napoleon spricht in demselben
einerseits aus: „die Preußen können uns nicht mehr als 40,000 Mann ent¬
gegenstellen" und glaubt anderseits ohne ernstlichen Kampf am folgenden
Tage in Brüssel einziehen zu können. Zu seinem großen Schaden ist unserm
Autor, der eine frühere Auflage des Buches benutzte, dies Schreiben ent¬
gangen; dagegen hat er das gleichzeitig an Ney dictirte gekannt, das Charras
ebenfalls (S. 152) bringt und aus welchem erhellt, daß Napoleon erst „um drei
Uhr Nachmittags oder am Abend", also in aller Gemächlichkeit, seine weiteren
Entschließungen zu fassen gedachte.

Mit allen vorurtheilslosen Beurtheilern stimmt auch Chesney darin über¬
ein, daß der erprobte Eroberer den 17. Juni 1813 vergeudet hat. Mit Bern¬
hardt speciell (I, 304) trifft er sich in dem Nachweise der irrigen Abfindung
Grouchy's zur Aufsuchung und Verfolgung der Preußen, welche „bereits
einen Vorsprung von zehn Stunden hatten". Eine andere Beobachtung, die
Bernhardt (I, 304) nur andeutet, führt er näher und in wirksamer Weise
aus. Er macht nämlich darauf aufmerksam, daß Napoleon unmittelbar nach¬
dem er Grouchy zur Aufsuchung der Preußen in der Richtung von Namur
entsendet hatte, nach Marbais fuhr, über welches Dorf die Straße nach Tilly
und Wavre führte, auf der die Preußen wirklich abgezogen waren. Von
Marbais aus hätte aber nur der Kaiser selbst, dem drei Reiterdivisionen*)
unter seinen directen Befehlen zur Verfügung standen, und nicht der nach
Osten entsendete Grouchy, die Recognoscirung auf dieser Straße vornehmen
können und müssen. Erhellt doch aus einem seiner Briefe von demselben
17. Mittags, daß er mindestens die Möglichkeit einer Vereinigungsabstcht
der preußischen mit der englischen Armee (— on ils veulerlt Sö r6unir enoore
xour couvrir Lruz-Mös) ins Auge gefaßt hatte!

Auch für die Entscheidungsschlacht selbst stimmt der neue Forscher den
unbefangensten unter den früheren darin bei, daß die tactische Verwendung
der Truppen, in welcher Wellington so sehr excellirte, von Seiten Napoleon's
durchaus ungenügend gewesen sei. Besonders verhängnißvoll erscheint ihm
dieser Fehler nach der vierten Attake, als Ney. der schon die englische Schlacht¬
reihe durchbrochen hatte, ohne Unterstützung blieb. Chesney meint am Ende,
jeder andere General, der an diesem Tage wie Napoleon gehandelt hätte,
würde wegen seiner Tactik eben so einstimmigen Tadel erfahren, als wegen



Charras S84 sieht nur eine inÄolouts uSMAMos Napoleons darin, daß er nicht schon
vor der unnützen Morgenrevue diese Reiter in den Halbkreis nach Norden entsendete.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123087/196>, abgerufen am 26.06.2024.