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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. I. Band.

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den Siborne's vergleicht. Ihr Hauptfehler sei der jeder nationalen Dar¬
stellung, vollends nach einem großen Kriege (v. 17, 231): "Das Werk hatte
den Beifall der englischen Armee nöthig, um sich bei seinem Erscheinen zu
behaupten"; hieraus erkläre sich auch Siborne's Ueberschätzung von Welling¬
ton's kriegerischen Handlungen. In einem Falle von höchster Bedeutung
-- über die ursprüngliche Vereinigungsabsicht der Alliirten vom 3. Mai, auf
welche ich am Schlüsse dieses Aufsatzes noch zurückkomme -- in diesem Falle
gibt Chesney der Darstellung Müffling's durchaus den Vorzug vor der Si¬
borne's 97, 119; v. 57, 67.)

Andererseits gibt er (v. 34, 62) in der wichtigen Frage über die
Effectivstärke der Wellington'schen Armee der Siborne'schen Berechnung von
106,000 Mann den Vorzug vor der niedrigeren Schätzung des Obersten
Charras. Von diesem französischen Fachgenossen spricht er übrigens mit
hoher Anerkennung in Bezug auf Charakter, Sorgfalt und militärische Vor¬
bildung, meint auch 33), sein Buch werde "noch lange Zeit*) als erste
Autorität" gelten; aber er findet es "zu umfangreich und weitschweifig für
den gewöhnlichen Gebrauch."

Vollkommen gut erscheinen der vorliegenden Kritik über den Krieg von
1815 nur die militärischen Darstellungen von Hamley und Sir I. Serao
Kennedy. Namentlich die letztere Arbeit -- dem Verfasser leider dermalen
unzugänglich -- stellt Chesney so hoch, weil sie von einem feingebildeten,
in seinen Worten völlig genauen Officier aus Wellington's Umgebung her¬
rührt, der im entscheidenden Momente der Schlacht des Feldherrn Befehle
zu überbringen hatte.

Anerkennen muß man den Sinn Chesney's für Wahrheit und Gerech¬
tigkeit wie überall, so namentlich seiner eigenen Nation und ihrer Krieg¬
führung gegenüber. Lobsprüche der Fremden verzeichnet er mit Bescheiden¬
heit wie zur Ermunterung seiner Zuhörer: der Bewunderung des Marschalls
Bugeaud für die Vorzüge der englischen Infanterie fügt er (v. 153, 278)
in directer Uebersetzung das Urtheil Müffling's bei, welcher (Feldzug von
1816, S. 80) diese Truppengattung für die vorzüglichste, am Tage der Schlacht
für die beste "Bataillonarmee" erklärt hat. Aber stärker als unser Verfasser kann
sich Niemand über die Thorheit äußern, der preußischen Armee den Lorbeer
der Entscheidung von Waterloo streitig machen oder Wellington als das
absolute Muster der Kriegführung hinstellen zu wollen.

Bei dem Urtheile über den letzteren als Quelle der Darstellung mag
einigermaßen zu bemerken sein, daß die liberale Strömung im heutigen Eng¬
land des Herzogs Andenken keineswegs günstig ist und auch auf die Armee



*) "Voraussichtlich auch für spätere Zeiten" v. 22.
24"

den Siborne's vergleicht. Ihr Hauptfehler sei der jeder nationalen Dar¬
stellung, vollends nach einem großen Kriege (v. 17, 231): „Das Werk hatte
den Beifall der englischen Armee nöthig, um sich bei seinem Erscheinen zu
behaupten"; hieraus erkläre sich auch Siborne's Ueberschätzung von Welling¬
ton's kriegerischen Handlungen. In einem Falle von höchster Bedeutung
— über die ursprüngliche Vereinigungsabsicht der Alliirten vom 3. Mai, auf
welche ich am Schlüsse dieses Aufsatzes noch zurückkomme — in diesem Falle
gibt Chesney der Darstellung Müffling's durchaus den Vorzug vor der Si¬
borne's 97, 119; v. 57, 67.)

Andererseits gibt er (v. 34, 62) in der wichtigen Frage über die
Effectivstärke der Wellington'schen Armee der Siborne'schen Berechnung von
106,000 Mann den Vorzug vor der niedrigeren Schätzung des Obersten
Charras. Von diesem französischen Fachgenossen spricht er übrigens mit
hoher Anerkennung in Bezug auf Charakter, Sorgfalt und militärische Vor¬
bildung, meint auch 33), sein Buch werde „noch lange Zeit*) als erste
Autorität" gelten; aber er findet es „zu umfangreich und weitschweifig für
den gewöhnlichen Gebrauch."

Vollkommen gut erscheinen der vorliegenden Kritik über den Krieg von
1815 nur die militärischen Darstellungen von Hamley und Sir I. Serao
Kennedy. Namentlich die letztere Arbeit — dem Verfasser leider dermalen
unzugänglich — stellt Chesney so hoch, weil sie von einem feingebildeten,
in seinen Worten völlig genauen Officier aus Wellington's Umgebung her¬
rührt, der im entscheidenden Momente der Schlacht des Feldherrn Befehle
zu überbringen hatte.

Anerkennen muß man den Sinn Chesney's für Wahrheit und Gerech¬
tigkeit wie überall, so namentlich seiner eigenen Nation und ihrer Krieg¬
führung gegenüber. Lobsprüche der Fremden verzeichnet er mit Bescheiden¬
heit wie zur Ermunterung seiner Zuhörer: der Bewunderung des Marschalls
Bugeaud für die Vorzüge der englischen Infanterie fügt er (v. 153, 278)
in directer Uebersetzung das Urtheil Müffling's bei, welcher (Feldzug von
1816, S. 80) diese Truppengattung für die vorzüglichste, am Tage der Schlacht
für die beste „Bataillonarmee" erklärt hat. Aber stärker als unser Verfasser kann
sich Niemand über die Thorheit äußern, der preußischen Armee den Lorbeer
der Entscheidung von Waterloo streitig machen oder Wellington als das
absolute Muster der Kriegführung hinstellen zu wollen.

Bei dem Urtheile über den letzteren als Quelle der Darstellung mag
einigermaßen zu bemerken sein, daß die liberale Strömung im heutigen Eng¬
land des Herzogs Andenken keineswegs günstig ist und auch auf die Armee



*) „Voraussichtlich auch für spätere Zeiten" v. 22.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123087/193>, abgerufen am 26.06.2024.