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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. I. Band.

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der Irrthümer und Willkürlichkeiten in dem verbreiterten Werke, dem von
Thiers, aus, so daß auch der mittelmäßige Zuhörer und Leser noch einen
Leitfaden für das Verständniß behält. Daß das Buch erst nachdem der Ver-
fasser eine andere Stellung erhalten hatte (0. S. X.) in Vorlesungsform ge¬
schrieben wurde, zeigt, wie wirksam er seinen Unterricht fand und mit welchem
Ernste er denselben handhabte.

Der gewählte Stoff ist für den kriegsgeschichtlichen Unterricht in mehr¬
facher Beziehung vorzüglich geeignet, namentlich in der vorliegenden Be¬
schränkung auf die eigentliche Kriegsaction in Belgien vom Is. bis
20. Juni, von den Vvrpostengefechten von Thum und Charleroi bis zum
Kampfe in Namur. Neben dieser seiner Beschränktheit in Raum und Zeit
wird aber der Stoff durch die Mannigfaltigkeit und innere Größe der
kämpfenden Armeen und ihrer Führer ungemein lehrreich. Es erscheinen uns
Jahrzehnte voll wechselnden Geschickes in großen Siegen und Niederlagen
wie eine Vorbereitung der Heere und Feldherren sür diese entscheidungs¬
vollen Tage.

Die Benutzung der literarischen Hilfsmittel ist bei Chesney eine voll¬
ständige, soweit englische und französische Schriften in Betracht kommen.
Ungünstiger steht es leider mit des Verfassers Kunde in deutscher Literatur,
obwohl ihm unsere Sprache nicht unbekannt zu sein scheint. Wie konnte ihm
und selbst, wie es scheint, der Bibliothek von Sandhurst eine so angenehme
Und auch bibliographisch unterrichtende Sammlung wie "die Geschichte der
Kriege" von dem Obersten Schulz entgehn, deren vierzehnter Band") dem
Verfasser so manche Mühe erspart hätte. Leichter begreiflich, wenn auch von
nachtheiligeren Folgen ist seine Unkenntniß von Bernhardts Geschichte Ru߬
lands, in der freilich kein Ausländer die schönen Untersuchungen über den
Waterloofeldzug suchen wird, welche sie enthält; durch dieses Buch wäre
unser Verfasser vielleicht auch auf die ungemeine Bedeutung der Memoiren
Reiche's aufmerksam geworden, mit denen Jeder genau bekannt sein sollte,
der über Waterloo schreiben will.

Dagegen findet man Clausewitz' Schriften, namentlich den achten Band
der "hinterlassenen Werke" verwerthet und die Ansichten desselben mit Hoch¬
achtung und Ernst erörtert. Mit einer gewissen Lebhaftigkeit, welche an
freundliche Traditionen aus jener Kriegszeit in der englischen Armee an¬
knüpfen mag, werden des Generals von Müffling hierher gehörige Schriften
gerühmt. Obwohl sich nun die deutsche Kritik über die Schwächen derselben,
namentlich die seltsamen Verwechselungen von Personen und Dingen, längst



') Uebrigens auch in der deutschen UeberseMng sonderbar genug nicht erwähnt, obwohl
da" Damitz'sche Buch (v S. 3) von Schulz (XIV. 181 XV 07) viel schärfer als von Chesney
verurtheilt wird.
Grenzboten I. 1870. 24

der Irrthümer und Willkürlichkeiten in dem verbreiterten Werke, dem von
Thiers, aus, so daß auch der mittelmäßige Zuhörer und Leser noch einen
Leitfaden für das Verständniß behält. Daß das Buch erst nachdem der Ver-
fasser eine andere Stellung erhalten hatte (0. S. X.) in Vorlesungsform ge¬
schrieben wurde, zeigt, wie wirksam er seinen Unterricht fand und mit welchem
Ernste er denselben handhabte.

Der gewählte Stoff ist für den kriegsgeschichtlichen Unterricht in mehr¬
facher Beziehung vorzüglich geeignet, namentlich in der vorliegenden Be¬
schränkung auf die eigentliche Kriegsaction in Belgien vom Is. bis
20. Juni, von den Vvrpostengefechten von Thum und Charleroi bis zum
Kampfe in Namur. Neben dieser seiner Beschränktheit in Raum und Zeit
wird aber der Stoff durch die Mannigfaltigkeit und innere Größe der
kämpfenden Armeen und ihrer Führer ungemein lehrreich. Es erscheinen uns
Jahrzehnte voll wechselnden Geschickes in großen Siegen und Niederlagen
wie eine Vorbereitung der Heere und Feldherren sür diese entscheidungs¬
vollen Tage.

Die Benutzung der literarischen Hilfsmittel ist bei Chesney eine voll¬
ständige, soweit englische und französische Schriften in Betracht kommen.
Ungünstiger steht es leider mit des Verfassers Kunde in deutscher Literatur,
obwohl ihm unsere Sprache nicht unbekannt zu sein scheint. Wie konnte ihm
und selbst, wie es scheint, der Bibliothek von Sandhurst eine so angenehme
Und auch bibliographisch unterrichtende Sammlung wie „die Geschichte der
Kriege" von dem Obersten Schulz entgehn, deren vierzehnter Band") dem
Verfasser so manche Mühe erspart hätte. Leichter begreiflich, wenn auch von
nachtheiligeren Folgen ist seine Unkenntniß von Bernhardts Geschichte Ru߬
lands, in der freilich kein Ausländer die schönen Untersuchungen über den
Waterloofeldzug suchen wird, welche sie enthält; durch dieses Buch wäre
unser Verfasser vielleicht auch auf die ungemeine Bedeutung der Memoiren
Reiche's aufmerksam geworden, mit denen Jeder genau bekannt sein sollte,
der über Waterloo schreiben will.

Dagegen findet man Clausewitz' Schriften, namentlich den achten Band
der „hinterlassenen Werke" verwerthet und die Ansichten desselben mit Hoch¬
achtung und Ernst erörtert. Mit einer gewissen Lebhaftigkeit, welche an
freundliche Traditionen aus jener Kriegszeit in der englischen Armee an¬
knüpfen mag, werden des Generals von Müffling hierher gehörige Schriften
gerühmt. Obwohl sich nun die deutsche Kritik über die Schwächen derselben,
namentlich die seltsamen Verwechselungen von Personen und Dingen, längst



') Uebrigens auch in der deutschen UeberseMng sonderbar genug nicht erwähnt, obwohl
da« Damitz'sche Buch (v S. 3) von Schulz (XIV. 181 XV 07) viel schärfer als von Chesney
verurtheilt wird.
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[0191] der Irrthümer und Willkürlichkeiten in dem verbreiterten Werke, dem von Thiers, aus, so daß auch der mittelmäßige Zuhörer und Leser noch einen Leitfaden für das Verständniß behält. Daß das Buch erst nachdem der Ver- fasser eine andere Stellung erhalten hatte (0. S. X.) in Vorlesungsform ge¬ schrieben wurde, zeigt, wie wirksam er seinen Unterricht fand und mit welchem Ernste er denselben handhabte. Der gewählte Stoff ist für den kriegsgeschichtlichen Unterricht in mehr¬ facher Beziehung vorzüglich geeignet, namentlich in der vorliegenden Be¬ schränkung auf die eigentliche Kriegsaction in Belgien vom Is. bis 20. Juni, von den Vvrpostengefechten von Thum und Charleroi bis zum Kampfe in Namur. Neben dieser seiner Beschränktheit in Raum und Zeit wird aber der Stoff durch die Mannigfaltigkeit und innere Größe der kämpfenden Armeen und ihrer Führer ungemein lehrreich. Es erscheinen uns Jahrzehnte voll wechselnden Geschickes in großen Siegen und Niederlagen wie eine Vorbereitung der Heere und Feldherren sür diese entscheidungs¬ vollen Tage. Die Benutzung der literarischen Hilfsmittel ist bei Chesney eine voll¬ ständige, soweit englische und französische Schriften in Betracht kommen. Ungünstiger steht es leider mit des Verfassers Kunde in deutscher Literatur, obwohl ihm unsere Sprache nicht unbekannt zu sein scheint. Wie konnte ihm und selbst, wie es scheint, der Bibliothek von Sandhurst eine so angenehme Und auch bibliographisch unterrichtende Sammlung wie „die Geschichte der Kriege" von dem Obersten Schulz entgehn, deren vierzehnter Band") dem Verfasser so manche Mühe erspart hätte. Leichter begreiflich, wenn auch von nachtheiligeren Folgen ist seine Unkenntniß von Bernhardts Geschichte Ru߬ lands, in der freilich kein Ausländer die schönen Untersuchungen über den Waterloofeldzug suchen wird, welche sie enthält; durch dieses Buch wäre unser Verfasser vielleicht auch auf die ungemeine Bedeutung der Memoiren Reiche's aufmerksam geworden, mit denen Jeder genau bekannt sein sollte, der über Waterloo schreiben will. Dagegen findet man Clausewitz' Schriften, namentlich den achten Band der „hinterlassenen Werke" verwerthet und die Ansichten desselben mit Hoch¬ achtung und Ernst erörtert. Mit einer gewissen Lebhaftigkeit, welche an freundliche Traditionen aus jener Kriegszeit in der englischen Armee an¬ knüpfen mag, werden des Generals von Müffling hierher gehörige Schriften gerühmt. Obwohl sich nun die deutsche Kritik über die Schwächen derselben, namentlich die seltsamen Verwechselungen von Personen und Dingen, längst ') Uebrigens auch in der deutschen UeberseMng sonderbar genug nicht erwähnt, obwohl da« Damitz'sche Buch (v S. 3) von Schulz (XIV. 181 XV 07) viel schärfer als von Chesney verurtheilt wird. Grenzboten I. 1870. 24

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123087/191>, abgerufen am 26.06.2024.