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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. I. Band.

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neue Laufbahn zu betreten, bedarf man allerdings des starken religiösen
Dranges, von welchem die Oberflächlichkeit der öffentlichen Meinung für den
Augenblick noch annimmt, er gehöre überhaupt dazu, wenn eine Dame von
guter Erziehung sich berufsmäßig zur Krankenpflege bestimmen solle. Dia¬
konissin wird nur, wer in eminenterem Sinne Christin ist oder sein will
als die große Mehrheit der Mitschwestern. Aber um eine gute, hingebende,
erfolgreiche Krankenpflegerin zu werden, dazu braucht es im Allgemeinen nur
einiges Ernsts und Schwungs der Seele, im Besonderen irgend eines dazu
führenden starken und nachhaltigen Interesses. Dieses kann so gut aus
reiner, unvermischter und unabgeleiteter Menschenfreundlichkeit entspringen
als aus einer speciellen religiösen Richtung; es kann selbst aus einem solchen
Grade wissenschaftlichen medicinischen Interesses entspringen, der sich genügen
läßt, freiwillig oder nothgedrungen neben dem leitenden Arzte eine secundäre
aber darum nicht minder wichtige Rolle zu spielen. Erwünschter als irgend
sonst ein Trieb wird der Sinn sein, welcher gerade auf das bestimmte Praktisch-
Gute gerichtet ist, das in der Krankenpflege zur Erscheinung kommt: die Lin¬
derung unnöthiger Schmerzen, die Erhaltung eines nicht rettungslos ver¬
lorenen Lebens.

Aber bisher haben sich diese anderen Motive neben dem religiösen doch
gänzlich ohnmächtig gezeigt zur Hervorbringung begeisterter Krankenpflege¬
rinnen! Nun natürlich; bisher gab es keinerlei Ermuthigung für andere
Frauen als solche, die sich vom Kloster der Barmherzigen Schwestern oder
vom Diaconissenhause persönlich angezogen fühlten, über den Graben des ein¬
engendem Herkommens zu springen. Wie kann man sich darüber wundern,
daß beinahe nur religiöse Beweggründe eine Frau zu stärkeren Abweichungen
von der Ueberlieferung, zu heroischen Leistungen treiben, wenn Erziehung,
Staat und öffentliche Meinung Alles thun, das Geschlecht auf den in der
Kirche wurzelnden Idealismus einzuschränken? Was geschieht denn, dem
Gemeinsinn, der Vaterlandsliebe und dem sympathischen Antheil an allen
Menschen in der weiblichen Brust eine Heimath zu gründen? Erst wenn
man die Mädchen für diese Ideale ähnlich zu erwärmen strebt wie die Jüng¬
linge, wird sich darüber urtheilen lassen, ob wirklich das religiöse Motiv das
einzige ist, das über ihre Gemüther Macht hat. Die Kunst hat ihnen ihre
Tempel aufgethan, und es gibt kaum weniger Priesterinnen derselben als
Priester; thue die Wissenschaft das Gleiche, so werden wir sehen, ob die Ge¬
legenheit von ihnen nicht annäherungsweise gleich umfassend und gleich
Wirksam benutzt werden wird. Thatsächliche Proben allein können die aka¬
demische Frage beantworten, welcher Unterschied des Vermögens zwischen
dem männlichen und weiblichen Gehirn besteht. Die bisherige Erfahrung ist
nicht nur viel zu kurz, auch viel zu sehr auf einseitige Voraussetzungen ve"


neue Laufbahn zu betreten, bedarf man allerdings des starken religiösen
Dranges, von welchem die Oberflächlichkeit der öffentlichen Meinung für den
Augenblick noch annimmt, er gehöre überhaupt dazu, wenn eine Dame von
guter Erziehung sich berufsmäßig zur Krankenpflege bestimmen solle. Dia¬
konissin wird nur, wer in eminenterem Sinne Christin ist oder sein will
als die große Mehrheit der Mitschwestern. Aber um eine gute, hingebende,
erfolgreiche Krankenpflegerin zu werden, dazu braucht es im Allgemeinen nur
einiges Ernsts und Schwungs der Seele, im Besonderen irgend eines dazu
führenden starken und nachhaltigen Interesses. Dieses kann so gut aus
reiner, unvermischter und unabgeleiteter Menschenfreundlichkeit entspringen
als aus einer speciellen religiösen Richtung; es kann selbst aus einem solchen
Grade wissenschaftlichen medicinischen Interesses entspringen, der sich genügen
läßt, freiwillig oder nothgedrungen neben dem leitenden Arzte eine secundäre
aber darum nicht minder wichtige Rolle zu spielen. Erwünschter als irgend
sonst ein Trieb wird der Sinn sein, welcher gerade auf das bestimmte Praktisch-
Gute gerichtet ist, das in der Krankenpflege zur Erscheinung kommt: die Lin¬
derung unnöthiger Schmerzen, die Erhaltung eines nicht rettungslos ver¬
lorenen Lebens.

Aber bisher haben sich diese anderen Motive neben dem religiösen doch
gänzlich ohnmächtig gezeigt zur Hervorbringung begeisterter Krankenpflege¬
rinnen! Nun natürlich; bisher gab es keinerlei Ermuthigung für andere
Frauen als solche, die sich vom Kloster der Barmherzigen Schwestern oder
vom Diaconissenhause persönlich angezogen fühlten, über den Graben des ein¬
engendem Herkommens zu springen. Wie kann man sich darüber wundern,
daß beinahe nur religiöse Beweggründe eine Frau zu stärkeren Abweichungen
von der Ueberlieferung, zu heroischen Leistungen treiben, wenn Erziehung,
Staat und öffentliche Meinung Alles thun, das Geschlecht auf den in der
Kirche wurzelnden Idealismus einzuschränken? Was geschieht denn, dem
Gemeinsinn, der Vaterlandsliebe und dem sympathischen Antheil an allen
Menschen in der weiblichen Brust eine Heimath zu gründen? Erst wenn
man die Mädchen für diese Ideale ähnlich zu erwärmen strebt wie die Jüng¬
linge, wird sich darüber urtheilen lassen, ob wirklich das religiöse Motiv das
einzige ist, das über ihre Gemüther Macht hat. Die Kunst hat ihnen ihre
Tempel aufgethan, und es gibt kaum weniger Priesterinnen derselben als
Priester; thue die Wissenschaft das Gleiche, so werden wir sehen, ob die Ge¬
legenheit von ihnen nicht annäherungsweise gleich umfassend und gleich
Wirksam benutzt werden wird. Thatsächliche Proben allein können die aka¬
demische Frage beantworten, welcher Unterschied des Vermögens zwischen
dem männlichen und weiblichen Gehirn besteht. Die bisherige Erfahrung ist
nicht nur viel zu kurz, auch viel zu sehr auf einseitige Voraussetzungen ve»


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[0188] neue Laufbahn zu betreten, bedarf man allerdings des starken religiösen Dranges, von welchem die Oberflächlichkeit der öffentlichen Meinung für den Augenblick noch annimmt, er gehöre überhaupt dazu, wenn eine Dame von guter Erziehung sich berufsmäßig zur Krankenpflege bestimmen solle. Dia¬ konissin wird nur, wer in eminenterem Sinne Christin ist oder sein will als die große Mehrheit der Mitschwestern. Aber um eine gute, hingebende, erfolgreiche Krankenpflegerin zu werden, dazu braucht es im Allgemeinen nur einiges Ernsts und Schwungs der Seele, im Besonderen irgend eines dazu führenden starken und nachhaltigen Interesses. Dieses kann so gut aus reiner, unvermischter und unabgeleiteter Menschenfreundlichkeit entspringen als aus einer speciellen religiösen Richtung; es kann selbst aus einem solchen Grade wissenschaftlichen medicinischen Interesses entspringen, der sich genügen läßt, freiwillig oder nothgedrungen neben dem leitenden Arzte eine secundäre aber darum nicht minder wichtige Rolle zu spielen. Erwünschter als irgend sonst ein Trieb wird der Sinn sein, welcher gerade auf das bestimmte Praktisch- Gute gerichtet ist, das in der Krankenpflege zur Erscheinung kommt: die Lin¬ derung unnöthiger Schmerzen, die Erhaltung eines nicht rettungslos ver¬ lorenen Lebens. Aber bisher haben sich diese anderen Motive neben dem religiösen doch gänzlich ohnmächtig gezeigt zur Hervorbringung begeisterter Krankenpflege¬ rinnen! Nun natürlich; bisher gab es keinerlei Ermuthigung für andere Frauen als solche, die sich vom Kloster der Barmherzigen Schwestern oder vom Diaconissenhause persönlich angezogen fühlten, über den Graben des ein¬ engendem Herkommens zu springen. Wie kann man sich darüber wundern, daß beinahe nur religiöse Beweggründe eine Frau zu stärkeren Abweichungen von der Ueberlieferung, zu heroischen Leistungen treiben, wenn Erziehung, Staat und öffentliche Meinung Alles thun, das Geschlecht auf den in der Kirche wurzelnden Idealismus einzuschränken? Was geschieht denn, dem Gemeinsinn, der Vaterlandsliebe und dem sympathischen Antheil an allen Menschen in der weiblichen Brust eine Heimath zu gründen? Erst wenn man die Mädchen für diese Ideale ähnlich zu erwärmen strebt wie die Jüng¬ linge, wird sich darüber urtheilen lassen, ob wirklich das religiöse Motiv das einzige ist, das über ihre Gemüther Macht hat. Die Kunst hat ihnen ihre Tempel aufgethan, und es gibt kaum weniger Priesterinnen derselben als Priester; thue die Wissenschaft das Gleiche, so werden wir sehen, ob die Ge¬ legenheit von ihnen nicht annäherungsweise gleich umfassend und gleich Wirksam benutzt werden wird. Thatsächliche Proben allein können die aka¬ demische Frage beantworten, welcher Unterschied des Vermögens zwischen dem männlichen und weiblichen Gehirn besteht. Die bisherige Erfahrung ist nicht nur viel zu kurz, auch viel zu sehr auf einseitige Voraussetzungen ve»

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123087/188>, abgerufen am 26.06.2024.