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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. I. Band.

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frei wählen darf, wird es schwerlich in den Sinn kommen, in der verarmten,
von Juden wimmelnden Sratt der alten russischen Theilfürsten seinen Sitz
aufzuschlagen. Siebzig Procent aller Bewohner des Przemysler Kreises ge¬
hören der ruthenischen Nationalität an, in der Stadt selbst leben zahlreiche
unirte Geistliche mit ebenso zahlreichen Familien und der Landpriester sucht
diese Stadt, in der der zweite griechische Kirchenfürst des Landes lebt und in
der er selbst vielleicht seine Studienjahre verbracht hat, mit Vorliebe auf. Wohl
steht man auf den Straßen und Plätzen nicht wenig Männer in wenigstens
halb-polnischer Tracht aber der Bauer und der städtische Proletarier tragen
bereits den niedrigen breitkrämpigen Hut, der bis in die Moldau hinein die
Kopfbedeckung des ruthenischen und des rumänischen Landmannes bildet.
Die zum Bischofssitz von Przemysl gehörige Druckerei druckt die kirchlichen
und weltlichen Bücher, welche zur religiösen und nationalen Erbauung des
Volks bestimmt sind; das Domcapitel gilt sür besonders glaubensetfrig und
arti-polnisch gesinnt und ein russisches Castro sorgt dafür, daß die Patrioten
einen Mittelpunkt haben, an welchem sie ihre nationale Gesinnung kräftigen,
ihre Pläne und Gedanken austauschen und sich mit völliger Freiheit be¬
wegen können.

Aber mächtiger als aller Besitz der Gegenwart trägt die Erinnerung
vergangener Tage dazu bei, den Ruthenen in Przemysl fester und bewußter
auftreten zu lassen, als in den meisten übrigen Städten des Landes. Die ersten
Versuche der Staatenbildung sind in dieser Stadt und in allem Lande östlich von
derselben von Russen ausgegangen, schon zur Zeit des heiligen Wladimir zählte
Przemysl uriter die Städte, welche den Großfürsten von Kiew als ihren Ober¬
herrn ehrten und ihmHeeressolge leisteten. Die Herrschaft des ersten Boleslaw
über dieses Gebiet war eine Episode von kurzer Dauer und im 11. Jahrhundert
saßen wiederum zwei russische Herrscher, die Fürsten von Haliez und Wladimir
auf rothrussischer Erde, diese trotz mühseliger, immer wiederkehrender Kämpfe
mit Polen und Ungarn und trotz gegenseitiger Eifersüchteleien behauptend.
Dreimal hatten ungarische Fürsten sich in Halicz festgesetzt, aber immer wieder
mußten sie dem nationalen Unabhängigkeitssinn der um den Thron von
Wladimir geschaarten Kleinrussen weichen und als das östliche Mutterland den
furchtbaren Streichen der mongolischn Raubschaaren erlegen und um seine Unab¬
hängigkeitgebracht worden war, behaupten die Nachkommen Roman's von Halicz
sich als souveräne Fürsten des Landes. Daniel, dem Sohne Roman's, war
es gelungen, vier westrussische Fürstenthümer unter sein Scepter zu bringen,
er nannte sich König von Rußland, er trug seit dem klugen Bündniß, das
er mit der römischen Kirche geschlossen, eine vom Papst geweihte Krone und
es schien, als ob Westrußland der Erbe und Mittelpunkt der russischen Macht
werden sollte, die weiter im Osten an die mongolische Barbarei verloren ge-


frei wählen darf, wird es schwerlich in den Sinn kommen, in der verarmten,
von Juden wimmelnden Sratt der alten russischen Theilfürsten seinen Sitz
aufzuschlagen. Siebzig Procent aller Bewohner des Przemysler Kreises ge¬
hören der ruthenischen Nationalität an, in der Stadt selbst leben zahlreiche
unirte Geistliche mit ebenso zahlreichen Familien und der Landpriester sucht
diese Stadt, in der der zweite griechische Kirchenfürst des Landes lebt und in
der er selbst vielleicht seine Studienjahre verbracht hat, mit Vorliebe auf. Wohl
steht man auf den Straßen und Plätzen nicht wenig Männer in wenigstens
halb-polnischer Tracht aber der Bauer und der städtische Proletarier tragen
bereits den niedrigen breitkrämpigen Hut, der bis in die Moldau hinein die
Kopfbedeckung des ruthenischen und des rumänischen Landmannes bildet.
Die zum Bischofssitz von Przemysl gehörige Druckerei druckt die kirchlichen
und weltlichen Bücher, welche zur religiösen und nationalen Erbauung des
Volks bestimmt sind; das Domcapitel gilt sür besonders glaubensetfrig und
arti-polnisch gesinnt und ein russisches Castro sorgt dafür, daß die Patrioten
einen Mittelpunkt haben, an welchem sie ihre nationale Gesinnung kräftigen,
ihre Pläne und Gedanken austauschen und sich mit völliger Freiheit be¬
wegen können.

Aber mächtiger als aller Besitz der Gegenwart trägt die Erinnerung
vergangener Tage dazu bei, den Ruthenen in Przemysl fester und bewußter
auftreten zu lassen, als in den meisten übrigen Städten des Landes. Die ersten
Versuche der Staatenbildung sind in dieser Stadt und in allem Lande östlich von
derselben von Russen ausgegangen, schon zur Zeit des heiligen Wladimir zählte
Przemysl uriter die Städte, welche den Großfürsten von Kiew als ihren Ober¬
herrn ehrten und ihmHeeressolge leisteten. Die Herrschaft des ersten Boleslaw
über dieses Gebiet war eine Episode von kurzer Dauer und im 11. Jahrhundert
saßen wiederum zwei russische Herrscher, die Fürsten von Haliez und Wladimir
auf rothrussischer Erde, diese trotz mühseliger, immer wiederkehrender Kämpfe
mit Polen und Ungarn und trotz gegenseitiger Eifersüchteleien behauptend.
Dreimal hatten ungarische Fürsten sich in Halicz festgesetzt, aber immer wieder
mußten sie dem nationalen Unabhängigkeitssinn der um den Thron von
Wladimir geschaarten Kleinrussen weichen und als das östliche Mutterland den
furchtbaren Streichen der mongolischn Raubschaaren erlegen und um seine Unab¬
hängigkeitgebracht worden war, behaupten die Nachkommen Roman's von Halicz
sich als souveräne Fürsten des Landes. Daniel, dem Sohne Roman's, war
es gelungen, vier westrussische Fürstenthümer unter sein Scepter zu bringen,
er nannte sich König von Rußland, er trug seit dem klugen Bündniß, das
er mit der römischen Kirche geschlossen, eine vom Papst geweihte Krone und
es schien, als ob Westrußland der Erbe und Mittelpunkt der russischen Macht
werden sollte, die weiter im Osten an die mongolische Barbarei verloren ge-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123087/157>, abgerufen am 26.06.2024.