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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. I. Band.

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eine gewisse Rolle spielt, obgleich er nur 10,000 Einwohner zählt (darunter
6000 Juden) und dem Namen nach Privateigenthum der Fürsten Lubomirski
ist. Wie in allen galizischen Städten leben auch hier zahlreiche Polen, ist
die polnische Sprache in Gerichten und Verwaltungsstellen die herrschende
und reducirt sich die ruthenische Bevölkerung auf die niederen und einen
Theil der mittleren Classen.

Erst vor den Thoren der Stadt gewahrt man, daß hier die ausschlie߬
liche Herrschaft des polnischen Elementes ein Ende hat. Der Bauer spricht
einen russischen Jargon, trägt sich anders als sein westlicher Nachbar und
besucht eine Kirche von morgenländischer Bauart. -- Eine Eisenbahnstunde
weiter nach Südosten liegt Przemysl, nächst Lemberg die wichtigste und an¬
gesehenste Stadt auf ruthenischer Erde, angesehen vor Allem durch ihr hohes
Alter, ihr.en russischen Ursprung und ihren erzbischöflichen Sitz. Schon im
8. Jahrhundert soll hier ein russischer Theilfürst den Grundstein zu seiner
Burg gelegt haben und nachweislich ist das griechische Bisthum von Przemysl
im Jahr 1218, einhundert und sieben und fünfzig Jahre früher als der rö¬
mische Bischofssitz der Stadt sundirt worden. Im Thal des sich anmuthig
schlängelnden San gelegen, von einer mittelalterlichen Stadtmauer umgeben,
macht die Stadt des Fürsten Przemyslaw den Eindruck eines Orts, der einst
würdigere Tage gesehen, aber diese längst vergessen hat. Sechs stattliche
Kirchthürme sehen über die Mauer hinüber, die katholischen Dome sind in
gothischem Styl gebaut, die Thürme der griechisch-unirten Kirchen zeigen die
bekannte Zwiebelgestalt, welche bei Groß- und Kleinrussen gleich beliebt ist,
auch bei den Westslaven vorkommt, der südslavischen Welt aber völlig unbekannt
zu sein scheint. Von einem benachbarten Hügel sehen die Trümmer eines
großartigen Schlosses auf die zum Theil noch ziemlich stattlichen Häuser des
Orts herab, der zwar wenig mehr als 12,000 dicht bei einander wohnende
Einwohner hat, als Sitz einer Finanzdirection und ziemlich zahlreicher an¬
derer Behörden, ganz besonders aber als Residenz zweier Kirchenfürsten, eines
griechisch-unirten Domcapitels und eines von diesem geleiteten Priesterseminars
eine Rolle spielt, welche sich nicht auf das städtische Weichbild beschränkt. In
Przemysl, das von den Polen wenig beachtet wird, das wegen seiner Armuth,
seines Schmutzes und seines Reichthums an Juden auch wenig Anziehungs¬
kraft ausübt, ist ein Hauptsitz des Ruthenenthums. Zwar wird sich kein ga-
lizischer Russe nehmen lassen, daß auch das alte Lwow (Lemberg) eine ächt
russische Stadt sei, aber thatsächlich muß er anerkennen, daß seine Nationali¬
tät hier eine nur secundäre Rolle spielt und von den polnischen Beamten und
den Edelleuten, die am Ufer des Pellew den Winter zubringen, als Ein¬
dringling behandelt wird. In Przemysl tritt der ruthenische Geistliche und
Gelehrte dagegen ungleich sicherer auf; dem Polen, der sich seinen Wohnort


eine gewisse Rolle spielt, obgleich er nur 10,000 Einwohner zählt (darunter
6000 Juden) und dem Namen nach Privateigenthum der Fürsten Lubomirski
ist. Wie in allen galizischen Städten leben auch hier zahlreiche Polen, ist
die polnische Sprache in Gerichten und Verwaltungsstellen die herrschende
und reducirt sich die ruthenische Bevölkerung auf die niederen und einen
Theil der mittleren Classen.

Erst vor den Thoren der Stadt gewahrt man, daß hier die ausschlie߬
liche Herrschaft des polnischen Elementes ein Ende hat. Der Bauer spricht
einen russischen Jargon, trägt sich anders als sein westlicher Nachbar und
besucht eine Kirche von morgenländischer Bauart. — Eine Eisenbahnstunde
weiter nach Südosten liegt Przemysl, nächst Lemberg die wichtigste und an¬
gesehenste Stadt auf ruthenischer Erde, angesehen vor Allem durch ihr hohes
Alter, ihr.en russischen Ursprung und ihren erzbischöflichen Sitz. Schon im
8. Jahrhundert soll hier ein russischer Theilfürst den Grundstein zu seiner
Burg gelegt haben und nachweislich ist das griechische Bisthum von Przemysl
im Jahr 1218, einhundert und sieben und fünfzig Jahre früher als der rö¬
mische Bischofssitz der Stadt sundirt worden. Im Thal des sich anmuthig
schlängelnden San gelegen, von einer mittelalterlichen Stadtmauer umgeben,
macht die Stadt des Fürsten Przemyslaw den Eindruck eines Orts, der einst
würdigere Tage gesehen, aber diese längst vergessen hat. Sechs stattliche
Kirchthürme sehen über die Mauer hinüber, die katholischen Dome sind in
gothischem Styl gebaut, die Thürme der griechisch-unirten Kirchen zeigen die
bekannte Zwiebelgestalt, welche bei Groß- und Kleinrussen gleich beliebt ist,
auch bei den Westslaven vorkommt, der südslavischen Welt aber völlig unbekannt
zu sein scheint. Von einem benachbarten Hügel sehen die Trümmer eines
großartigen Schlosses auf die zum Theil noch ziemlich stattlichen Häuser des
Orts herab, der zwar wenig mehr als 12,000 dicht bei einander wohnende
Einwohner hat, als Sitz einer Finanzdirection und ziemlich zahlreicher an¬
derer Behörden, ganz besonders aber als Residenz zweier Kirchenfürsten, eines
griechisch-unirten Domcapitels und eines von diesem geleiteten Priesterseminars
eine Rolle spielt, welche sich nicht auf das städtische Weichbild beschränkt. In
Przemysl, das von den Polen wenig beachtet wird, das wegen seiner Armuth,
seines Schmutzes und seines Reichthums an Juden auch wenig Anziehungs¬
kraft ausübt, ist ein Hauptsitz des Ruthenenthums. Zwar wird sich kein ga-
lizischer Russe nehmen lassen, daß auch das alte Lwow (Lemberg) eine ächt
russische Stadt sei, aber thatsächlich muß er anerkennen, daß seine Nationali¬
tät hier eine nur secundäre Rolle spielt und von den polnischen Beamten und
den Edelleuten, die am Ufer des Pellew den Winter zubringen, als Ein¬
dringling behandelt wird. In Przemysl tritt der ruthenische Geistliche und
Gelehrte dagegen ungleich sicherer auf; dem Polen, der sich seinen Wohnort


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123087/156>, abgerufen am 26.06.2024.