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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. I. Band.

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günstig, aber auch der Wechsel im politischen Wetter ist unberechenbar und wir
dürfen uns überzeugt halten, daß alle Fehler und Unklugheiten des liberalen Regi¬
ments sorgfältig registrirtund alles dazu geschrieben wird, was gegenwärtig Dul¬
dung findet: die Ausschreitungen der Schmutzpresse, die auf den sogenannten
Volksbühnen in Permanenz erklärte Liederlichkeit, die Radotagen jugendlicher
Clubbredner u. s. w. Welch' eine Bereicherung dieses Arsenals, wenn dem¬
selben Schriftstücke beigefügt werden können, die allerdings Versuchen, die
Gemahlin des Monarchen zu terrorisiren, einigermaßen ähnlich sehen! Und
kann man sich nur einen Augenblick lang dem Wahne hingeben, daß mit
solchen Standreden irgend etwas Nützliches zu erreichen sei?

Es ist schon das zweitemal, daß das Verhalten der Kaiserin von der¬
selben Seite öffentlich kritisirt wird. Zuerst war es der Partei der Neuen
Presse nicht recht, daß die Kaiserin mit Vorliebe in Ungarn weilt: das sei
eine Zurücksetzung der Deutschen. Damals hagelte es derbe Zurechtweisungen
welche für die hohe Frau, die nicht Regentin ist. das Recht reclamirten da
zu leben, wo es ihr gefalle. Die zweite Attaque war insofern geschickter-
als diesseit und jenseit der Leitha die Abneigung gegen Rom allgemein
und groß genug ist, um das Unpassende und Unpolitische einer derartigen
Polemik übersehen zu lassen. Aber ein Malheur passirte dem Blatt wieder:
in dem Augenblicke, als es spitzig erklärte, das Familienereigniß, welches den
Vorwand für die römische Reise hergeben müsse, sei ja erst in Monaten zu
erwarten, war die Königin von Neapel bereits eines Kindes genesen. Das
Blatt des Ministeriums und so schlecht unterrichtet! Noch viel compromitti-
render freilich sind diese Manifestationen der Angst vor Einflüssen, denen die
am Ruder stehende Partei sich nicht gewachsen fühlt, seien es ungarische oder
römische. Der Minister des Innern soll dieser Tage im Adreßausschufse die
sehr bezeichnende Klage geführt haben, daß eine Partei im Cabinet "die
Fühlung" mit den höchsten Kreisen verloren habe .... Die journalistischen
Kraftproben ihrer guten Freunde werden diese Fühlung schwerlich wieder¬
herstellen.

Dabei ist unleugbar das gute Einvernehmen zwischen der Kaiserin und
der diesseitigen Bevölkerung so ziemlich geschwunden. Aber sollte in den
Redactionsbureaus der großen Wiener Blätter nicht bekannt sein, was man
übrigens im ganzen Lande sich erzählt? Hochgeborene Damen, welche ein
Interesse daran haben, die Welt glauben zu machen, daß Tugend überhaupt
nur "ein Begriff" sei, sollen der Kaiserin eine Schwäche angedichtet haben,
welche sie den Erzählerinnen näher bringen würde; ungarischerseits hätte man
nicht verfehlt die Gerüchte an die rechte oder unrechte Adresse zu leiten, und
daher datire ein entschiedener Widerwille der Kaiserin gegen die deutsche Um¬
gebung, von welcher sie eine so schwere Kränkung erfahren. In Pest erkennt


günstig, aber auch der Wechsel im politischen Wetter ist unberechenbar und wir
dürfen uns überzeugt halten, daß alle Fehler und Unklugheiten des liberalen Regi¬
ments sorgfältig registrirtund alles dazu geschrieben wird, was gegenwärtig Dul¬
dung findet: die Ausschreitungen der Schmutzpresse, die auf den sogenannten
Volksbühnen in Permanenz erklärte Liederlichkeit, die Radotagen jugendlicher
Clubbredner u. s. w. Welch' eine Bereicherung dieses Arsenals, wenn dem¬
selben Schriftstücke beigefügt werden können, die allerdings Versuchen, die
Gemahlin des Monarchen zu terrorisiren, einigermaßen ähnlich sehen! Und
kann man sich nur einen Augenblick lang dem Wahne hingeben, daß mit
solchen Standreden irgend etwas Nützliches zu erreichen sei?

Es ist schon das zweitemal, daß das Verhalten der Kaiserin von der¬
selben Seite öffentlich kritisirt wird. Zuerst war es der Partei der Neuen
Presse nicht recht, daß die Kaiserin mit Vorliebe in Ungarn weilt: das sei
eine Zurücksetzung der Deutschen. Damals hagelte es derbe Zurechtweisungen
welche für die hohe Frau, die nicht Regentin ist. das Recht reclamirten da
zu leben, wo es ihr gefalle. Die zweite Attaque war insofern geschickter-
als diesseit und jenseit der Leitha die Abneigung gegen Rom allgemein
und groß genug ist, um das Unpassende und Unpolitische einer derartigen
Polemik übersehen zu lassen. Aber ein Malheur passirte dem Blatt wieder:
in dem Augenblicke, als es spitzig erklärte, das Familienereigniß, welches den
Vorwand für die römische Reise hergeben müsse, sei ja erst in Monaten zu
erwarten, war die Königin von Neapel bereits eines Kindes genesen. Das
Blatt des Ministeriums und so schlecht unterrichtet! Noch viel compromitti-
render freilich sind diese Manifestationen der Angst vor Einflüssen, denen die
am Ruder stehende Partei sich nicht gewachsen fühlt, seien es ungarische oder
römische. Der Minister des Innern soll dieser Tage im Adreßausschufse die
sehr bezeichnende Klage geführt haben, daß eine Partei im Cabinet „die
Fühlung" mit den höchsten Kreisen verloren habe .... Die journalistischen
Kraftproben ihrer guten Freunde werden diese Fühlung schwerlich wieder¬
herstellen.

Dabei ist unleugbar das gute Einvernehmen zwischen der Kaiserin und
der diesseitigen Bevölkerung so ziemlich geschwunden. Aber sollte in den
Redactionsbureaus der großen Wiener Blätter nicht bekannt sein, was man
übrigens im ganzen Lande sich erzählt? Hochgeborene Damen, welche ein
Interesse daran haben, die Welt glauben zu machen, daß Tugend überhaupt
nur „ein Begriff" sei, sollen der Kaiserin eine Schwäche angedichtet haben,
welche sie den Erzählerinnen näher bringen würde; ungarischerseits hätte man
nicht verfehlt die Gerüchte an die rechte oder unrechte Adresse zu leiten, und
daher datire ein entschiedener Widerwille der Kaiserin gegen die deutsche Um¬
gebung, von welcher sie eine so schwere Kränkung erfahren. In Pest erkennt


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123087/140>, abgerufen am 26.06.2024.