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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. I. Band.

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Es gilt um jeden Preis, sie aus der jetzigen Position insoweit herauszutrei¬
ben, daß ihrer Jsolirung der Vorwand genommen wird. Kommt man ihnen
entgegen, bietet man ihnen Gelegenheit, ihre Forderungen bestimmt zu for-
muliren und diese gleichberechtigt mit den Vertretern der anderen Nationali¬
täten zu discutiren, und sie verharren auch dann auf ihrem Non possmuus,
so kann und wird kein Mensch von fünf gesunden Sinnen in ganz Europa
sich fürder auf ihre Seite stellen. Diese Eventualität ist aber in Wahrheit
nicht zu erwarten. Die Czechen wollen zu Oestreich gehören, das haben sie
oft genug bewiesen; die Wallfahrt nach Moskau war ein Schachzug, ernstlich
denken wenigstens die Vernünftigen im Lande nicht daran, sich Rußland in
die Arme zu werfen, weil sie wohl wissen, daß die Umarmung sie erdrücken
würde. Fischhof hat eben so treffend als geistvoll den Unterschied in dem
Verhältniß Galiziens auf der einen und Böhmens auf der anderen Seite zu
Oestreich hervorgehoben. Die Polen träumen stets von der Wiederherstellung
ihres Reichs, und je nachdem die Chancen dieser Idee zu stehen scheinen, sind
sie verträglich oder unverträglich, gesammtstaatlich oder separatistisch, und im
besondern wird ihre Haltung natürlich durch den größeren oder geringeren
Grad von Wahrscheinlichkeit für eine polenfreundliche Action Oestreichs regu-
lirt. Mit ihnen aber kokettirt jede Regierung, während die Czechen aus¬
gehungert werden sollen und statt dessen endlich in Wahrheit den Feinden
Oestreichs werden zugeführt werden. Mit einem unglaublichen Leichtsinn
redet man sich die möglichen Gefahren der Lage weg: "England hat die
parlamentarische Centralisation auch mit der größten Rücksichtslosigkeit durch¬
geführt!" Ein schöner Grund. Erstens ist doch sehr fragllich, ob England
ebenso vorgegangen sein würde, wenn hinter Irland eine stammverwandte
eroberungslustige Macht gestanden wäre. Und angenommen, Oestreich, das
heutige Oestreich wäre in der Verfassung, sich auf einen ähnlichen Kampf im
Innern einlassen zu können -- wer will denn mit ruhigem Blute jenes Bei¬
spiel zur Nachahmung empfehlen? Wer anrathen, Böhmen zu einem zweiten
Irland zu machen, so lange noch irgend ein anderer Weg offen ist?

Daß aus dem Wtrrsal endlich wieder ein Triumph der feudal-ultramon¬
tanen Partei werden könnte, ist sicher; aber wenn es geschehen sollte, so hätten
die jetzigen Machthaber und deren parlamentarische und journalistische Freunde
die Verantwortung zu tragen. Jene Elemente sind in Ungarn unschädlich
gemacht worden durch die Verständigung der Regierung mit den ungarischen
Liberalen; ebenso wären die böhmischen Junker und Pfaffen in dem Augen¬
blick geschlagen, in welchem die Vürgerparteien der Deutschen und Czechen unter
sich Frieden schlösse. So lange der nationale Gegensatz das Feldgeschrei
bleibt, bilden die Czechen den Deutschen gegenüber eine Partei, soweit die
einzelnen Fractionen in ihren politischen und religiösen Zielen von einander


Es gilt um jeden Preis, sie aus der jetzigen Position insoweit herauszutrei¬
ben, daß ihrer Jsolirung der Vorwand genommen wird. Kommt man ihnen
entgegen, bietet man ihnen Gelegenheit, ihre Forderungen bestimmt zu for-
muliren und diese gleichberechtigt mit den Vertretern der anderen Nationali¬
täten zu discutiren, und sie verharren auch dann auf ihrem Non possmuus,
so kann und wird kein Mensch von fünf gesunden Sinnen in ganz Europa
sich fürder auf ihre Seite stellen. Diese Eventualität ist aber in Wahrheit
nicht zu erwarten. Die Czechen wollen zu Oestreich gehören, das haben sie
oft genug bewiesen; die Wallfahrt nach Moskau war ein Schachzug, ernstlich
denken wenigstens die Vernünftigen im Lande nicht daran, sich Rußland in
die Arme zu werfen, weil sie wohl wissen, daß die Umarmung sie erdrücken
würde. Fischhof hat eben so treffend als geistvoll den Unterschied in dem
Verhältniß Galiziens auf der einen und Böhmens auf der anderen Seite zu
Oestreich hervorgehoben. Die Polen träumen stets von der Wiederherstellung
ihres Reichs, und je nachdem die Chancen dieser Idee zu stehen scheinen, sind
sie verträglich oder unverträglich, gesammtstaatlich oder separatistisch, und im
besondern wird ihre Haltung natürlich durch den größeren oder geringeren
Grad von Wahrscheinlichkeit für eine polenfreundliche Action Oestreichs regu-
lirt. Mit ihnen aber kokettirt jede Regierung, während die Czechen aus¬
gehungert werden sollen und statt dessen endlich in Wahrheit den Feinden
Oestreichs werden zugeführt werden. Mit einem unglaublichen Leichtsinn
redet man sich die möglichen Gefahren der Lage weg: „England hat die
parlamentarische Centralisation auch mit der größten Rücksichtslosigkeit durch¬
geführt!" Ein schöner Grund. Erstens ist doch sehr fragllich, ob England
ebenso vorgegangen sein würde, wenn hinter Irland eine stammverwandte
eroberungslustige Macht gestanden wäre. Und angenommen, Oestreich, das
heutige Oestreich wäre in der Verfassung, sich auf einen ähnlichen Kampf im
Innern einlassen zu können — wer will denn mit ruhigem Blute jenes Bei¬
spiel zur Nachahmung empfehlen? Wer anrathen, Böhmen zu einem zweiten
Irland zu machen, so lange noch irgend ein anderer Weg offen ist?

Daß aus dem Wtrrsal endlich wieder ein Triumph der feudal-ultramon¬
tanen Partei werden könnte, ist sicher; aber wenn es geschehen sollte, so hätten
die jetzigen Machthaber und deren parlamentarische und journalistische Freunde
die Verantwortung zu tragen. Jene Elemente sind in Ungarn unschädlich
gemacht worden durch die Verständigung der Regierung mit den ungarischen
Liberalen; ebenso wären die böhmischen Junker und Pfaffen in dem Augen¬
blick geschlagen, in welchem die Vürgerparteien der Deutschen und Czechen unter
sich Frieden schlösse. So lange der nationale Gegensatz das Feldgeschrei
bleibt, bilden die Czechen den Deutschen gegenüber eine Partei, soweit die
einzelnen Fractionen in ihren politischen und religiösen Zielen von einander


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[0138] Es gilt um jeden Preis, sie aus der jetzigen Position insoweit herauszutrei¬ ben, daß ihrer Jsolirung der Vorwand genommen wird. Kommt man ihnen entgegen, bietet man ihnen Gelegenheit, ihre Forderungen bestimmt zu for- muliren und diese gleichberechtigt mit den Vertretern der anderen Nationali¬ täten zu discutiren, und sie verharren auch dann auf ihrem Non possmuus, so kann und wird kein Mensch von fünf gesunden Sinnen in ganz Europa sich fürder auf ihre Seite stellen. Diese Eventualität ist aber in Wahrheit nicht zu erwarten. Die Czechen wollen zu Oestreich gehören, das haben sie oft genug bewiesen; die Wallfahrt nach Moskau war ein Schachzug, ernstlich denken wenigstens die Vernünftigen im Lande nicht daran, sich Rußland in die Arme zu werfen, weil sie wohl wissen, daß die Umarmung sie erdrücken würde. Fischhof hat eben so treffend als geistvoll den Unterschied in dem Verhältniß Galiziens auf der einen und Böhmens auf der anderen Seite zu Oestreich hervorgehoben. Die Polen träumen stets von der Wiederherstellung ihres Reichs, und je nachdem die Chancen dieser Idee zu stehen scheinen, sind sie verträglich oder unverträglich, gesammtstaatlich oder separatistisch, und im besondern wird ihre Haltung natürlich durch den größeren oder geringeren Grad von Wahrscheinlichkeit für eine polenfreundliche Action Oestreichs regu- lirt. Mit ihnen aber kokettirt jede Regierung, während die Czechen aus¬ gehungert werden sollen und statt dessen endlich in Wahrheit den Feinden Oestreichs werden zugeführt werden. Mit einem unglaublichen Leichtsinn redet man sich die möglichen Gefahren der Lage weg: „England hat die parlamentarische Centralisation auch mit der größten Rücksichtslosigkeit durch¬ geführt!" Ein schöner Grund. Erstens ist doch sehr fragllich, ob England ebenso vorgegangen sein würde, wenn hinter Irland eine stammverwandte eroberungslustige Macht gestanden wäre. Und angenommen, Oestreich, das heutige Oestreich wäre in der Verfassung, sich auf einen ähnlichen Kampf im Innern einlassen zu können — wer will denn mit ruhigem Blute jenes Bei¬ spiel zur Nachahmung empfehlen? Wer anrathen, Böhmen zu einem zweiten Irland zu machen, so lange noch irgend ein anderer Weg offen ist? Daß aus dem Wtrrsal endlich wieder ein Triumph der feudal-ultramon¬ tanen Partei werden könnte, ist sicher; aber wenn es geschehen sollte, so hätten die jetzigen Machthaber und deren parlamentarische und journalistische Freunde die Verantwortung zu tragen. Jene Elemente sind in Ungarn unschädlich gemacht worden durch die Verständigung der Regierung mit den ungarischen Liberalen; ebenso wären die böhmischen Junker und Pfaffen in dem Augen¬ blick geschlagen, in welchem die Vürgerparteien der Deutschen und Czechen unter sich Frieden schlösse. So lange der nationale Gegensatz das Feldgeschrei bleibt, bilden die Czechen den Deutschen gegenüber eine Partei, soweit die einzelnen Fractionen in ihren politischen und religiösen Zielen von einander

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123087/138>, abgerufen am 26.06.2024.