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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. I. Band.

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ja nie und nirgend (oder wäre es blos bei uns so?) die Mühe, die Gesetze
oder sonstigen Actenstücke, um welche es sich handelt, selbst nachzulesen, selbst
zu prüfen. Das Schlagwort "verfassungstreu" ist ein sehr beliebtes, ein
Gegner der Verfassung, dieser bestimmten nämlich, ist der "öffentlichen Mei¬
nung" gleichbedeutend mit einem Feinde verfassungsmäßiger Freiheit über¬
haupt, und wenn nun, wie mit großer Beflissenheit geschieht, der andern
Partei insinuirt wird, sie beabsichtige Deutsch-Oestreich den Czechen, den Feu¬
dalen, den Ultramontanen preiszugeben, so ist der liberale Bourgeois von
einer Entrüstung erfüllt, welche keine Grenzen kennt. Man sollte endlich
daran gewöhnt sein und doch traut man immer wieder seinen Sinnen nicht,
wenn man beobachtet, wie sonst gebildete und verständige Menschen sich in
der Politik von der leeren Phrase imponirend und leiten lassen. Im Augen¬
blicke stehen die Dinge so, daß das Programm der Minorität des Ministeriums
einen wahren Sturm in den deutschen Provinzen hervorrufen würde, einen
viel größeren als 1863 die Maßregeln Belcredi's, schon darum, weil gegen¬
wärtig die Presse große Freiheit genießt und das Clubbwesen in ziemlicher
Blüthe steht. An die verfassungslose belcredische Zeit wird denn auch wohl¬
weislich oft erinnert. Und doch existirt eine fundamentale Verschiedenheit
zwischen der Politik Belcredi's und dem Taaffe-Berger-Potockischen Programme
(soweit dasselbe veröffentlicht ist), mag das Ziel beider auch so ziemlich das
gleiche sein. Daß Belcredi's Idee nicht schlechthin verwerflich war. zeigt sich
immer deutlicher. Da der Plan einer völligen legislativen und administrativen
Centralisation gescheitert war, wollte er zwei Gruppen schaffen, zwischen wel¬
chen, soweit es eben durchzusetzen wäre, eine Realunion hergestellt und inner¬
halb deren den einzelnen Ländern ein hoher Grad von Autonomie gewährt
werden sollte. Magyaren und Deutsche opponirten diesem Plane einstimmig,
weil beide befürchteten, dabei um ihre Führerschaft zu kommen; Kraft aber
erhielt ihr Widerstand nur dadurch, daß Belcredi sein Werk mit der Sistirung
der Verfassung begann und in Folge dessen nur reactionäre Mitarbeiter und
Bundesgenossen fand. Gegenwärtig fällt es Niemand ein, die Verfassung
beseitigen, umgehen oder auf anderem als gesetzlichem Wege abändern zu
wollen. Nur weil es eine baare Unmöglichkeit ist, in die jetzige Reichs¬
versammlung solche Vertreter der Slaven zu bringen, welche von diesen letz¬
teren anerkannt werden, nur darum denkt man an einen Reichsrath roe.

Die rechtliche Seite des Conflicts scheint uns ganz klar. Und unter
dem Gesichtspunkte der politischen Raison gewinnen wir kein anderes Bild
der Sache. Jetzt erklären die Czechen sich für die Unbedrückten, die ungehört
Gerichteten, und mögen sie noch so unbeliebt sein, mögen ihre Klagen noch so
viel Uebertreibung enthalten: das gegenwärtige Verhältniß bleibt sür den
Fall irgend einer Complication im Osten des Reiches ein höchst gefährliches.


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ja nie und nirgend (oder wäre es blos bei uns so?) die Mühe, die Gesetze
oder sonstigen Actenstücke, um welche es sich handelt, selbst nachzulesen, selbst
zu prüfen. Das Schlagwort „verfassungstreu" ist ein sehr beliebtes, ein
Gegner der Verfassung, dieser bestimmten nämlich, ist der „öffentlichen Mei¬
nung" gleichbedeutend mit einem Feinde verfassungsmäßiger Freiheit über¬
haupt, und wenn nun, wie mit großer Beflissenheit geschieht, der andern
Partei insinuirt wird, sie beabsichtige Deutsch-Oestreich den Czechen, den Feu¬
dalen, den Ultramontanen preiszugeben, so ist der liberale Bourgeois von
einer Entrüstung erfüllt, welche keine Grenzen kennt. Man sollte endlich
daran gewöhnt sein und doch traut man immer wieder seinen Sinnen nicht,
wenn man beobachtet, wie sonst gebildete und verständige Menschen sich in
der Politik von der leeren Phrase imponirend und leiten lassen. Im Augen¬
blicke stehen die Dinge so, daß das Programm der Minorität des Ministeriums
einen wahren Sturm in den deutschen Provinzen hervorrufen würde, einen
viel größeren als 1863 die Maßregeln Belcredi's, schon darum, weil gegen¬
wärtig die Presse große Freiheit genießt und das Clubbwesen in ziemlicher
Blüthe steht. An die verfassungslose belcredische Zeit wird denn auch wohl¬
weislich oft erinnert. Und doch existirt eine fundamentale Verschiedenheit
zwischen der Politik Belcredi's und dem Taaffe-Berger-Potockischen Programme
(soweit dasselbe veröffentlicht ist), mag das Ziel beider auch so ziemlich das
gleiche sein. Daß Belcredi's Idee nicht schlechthin verwerflich war. zeigt sich
immer deutlicher. Da der Plan einer völligen legislativen und administrativen
Centralisation gescheitert war, wollte er zwei Gruppen schaffen, zwischen wel¬
chen, soweit es eben durchzusetzen wäre, eine Realunion hergestellt und inner¬
halb deren den einzelnen Ländern ein hoher Grad von Autonomie gewährt
werden sollte. Magyaren und Deutsche opponirten diesem Plane einstimmig,
weil beide befürchteten, dabei um ihre Führerschaft zu kommen; Kraft aber
erhielt ihr Widerstand nur dadurch, daß Belcredi sein Werk mit der Sistirung
der Verfassung begann und in Folge dessen nur reactionäre Mitarbeiter und
Bundesgenossen fand. Gegenwärtig fällt es Niemand ein, die Verfassung
beseitigen, umgehen oder auf anderem als gesetzlichem Wege abändern zu
wollen. Nur weil es eine baare Unmöglichkeit ist, in die jetzige Reichs¬
versammlung solche Vertreter der Slaven zu bringen, welche von diesen letz¬
teren anerkannt werden, nur darum denkt man an einen Reichsrath roe.

Die rechtliche Seite des Conflicts scheint uns ganz klar. Und unter
dem Gesichtspunkte der politischen Raison gewinnen wir kein anderes Bild
der Sache. Jetzt erklären die Czechen sich für die Unbedrückten, die ungehört
Gerichteten, und mögen sie noch so unbeliebt sein, mögen ihre Klagen noch so
viel Uebertreibung enthalten: das gegenwärtige Verhältniß bleibt sür den
Fall irgend einer Complication im Osten des Reiches ein höchst gefährliches.


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[0137] ja nie und nirgend (oder wäre es blos bei uns so?) die Mühe, die Gesetze oder sonstigen Actenstücke, um welche es sich handelt, selbst nachzulesen, selbst zu prüfen. Das Schlagwort „verfassungstreu" ist ein sehr beliebtes, ein Gegner der Verfassung, dieser bestimmten nämlich, ist der „öffentlichen Mei¬ nung" gleichbedeutend mit einem Feinde verfassungsmäßiger Freiheit über¬ haupt, und wenn nun, wie mit großer Beflissenheit geschieht, der andern Partei insinuirt wird, sie beabsichtige Deutsch-Oestreich den Czechen, den Feu¬ dalen, den Ultramontanen preiszugeben, so ist der liberale Bourgeois von einer Entrüstung erfüllt, welche keine Grenzen kennt. Man sollte endlich daran gewöhnt sein und doch traut man immer wieder seinen Sinnen nicht, wenn man beobachtet, wie sonst gebildete und verständige Menschen sich in der Politik von der leeren Phrase imponirend und leiten lassen. Im Augen¬ blicke stehen die Dinge so, daß das Programm der Minorität des Ministeriums einen wahren Sturm in den deutschen Provinzen hervorrufen würde, einen viel größeren als 1863 die Maßregeln Belcredi's, schon darum, weil gegen¬ wärtig die Presse große Freiheit genießt und das Clubbwesen in ziemlicher Blüthe steht. An die verfassungslose belcredische Zeit wird denn auch wohl¬ weislich oft erinnert. Und doch existirt eine fundamentale Verschiedenheit zwischen der Politik Belcredi's und dem Taaffe-Berger-Potockischen Programme (soweit dasselbe veröffentlicht ist), mag das Ziel beider auch so ziemlich das gleiche sein. Daß Belcredi's Idee nicht schlechthin verwerflich war. zeigt sich immer deutlicher. Da der Plan einer völligen legislativen und administrativen Centralisation gescheitert war, wollte er zwei Gruppen schaffen, zwischen wel¬ chen, soweit es eben durchzusetzen wäre, eine Realunion hergestellt und inner¬ halb deren den einzelnen Ländern ein hoher Grad von Autonomie gewährt werden sollte. Magyaren und Deutsche opponirten diesem Plane einstimmig, weil beide befürchteten, dabei um ihre Führerschaft zu kommen; Kraft aber erhielt ihr Widerstand nur dadurch, daß Belcredi sein Werk mit der Sistirung der Verfassung begann und in Folge dessen nur reactionäre Mitarbeiter und Bundesgenossen fand. Gegenwärtig fällt es Niemand ein, die Verfassung beseitigen, umgehen oder auf anderem als gesetzlichem Wege abändern zu wollen. Nur weil es eine baare Unmöglichkeit ist, in die jetzige Reichs¬ versammlung solche Vertreter der Slaven zu bringen, welche von diesen letz¬ teren anerkannt werden, nur darum denkt man an einen Reichsrath roe. Die rechtliche Seite des Conflicts scheint uns ganz klar. Und unter dem Gesichtspunkte der politischen Raison gewinnen wir kein anderes Bild der Sache. Jetzt erklären die Czechen sich für die Unbedrückten, die ungehört Gerichteten, und mögen sie noch so unbeliebt sein, mögen ihre Klagen noch so viel Uebertreibung enthalten: das gegenwärtige Verhältniß bleibt sür den Fall irgend einer Complication im Osten des Reiches ein höchst gefährliches. 17*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123087/137>, abgerufen am 26.06.2024.