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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. I. Band.

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wissen. Zu dem Zwecke sollten Landtage und Reichsrath aufgelöst, die
Neuwahlen aber ausdrücklich behufs der Verfassungsrevision ausgeschrieben
werden.

Unserer Meinung nach kann keinen Augenblick zweifelhaft sein, auf welcher
Seite das Recht und der politische Verstand zu finden seien. Das ganze
Verfassungswesen in Oestreich beruht aus dem Diplom vom 20. October
1860, in dessen erstem Paragraphen es heißt: "Das Recht, Gesetze zu
geben, abzuändern und aufzuheben wird von Uns und Unsern Nachfol¬
gern nur unter Mitwirkung der gesetzlich versammelten Landtage, be¬
ziehungsweise des Reichsraths, ausgeübt werden, zu welchem die Land¬
tage die von Uns festgesetzte Zahl Mitglieder zu entsenden haben." Die
Verfassung vom 26. Februar 1861 wiederholte die entscheidenden Worte dieses
Satzes ausdrücklich und verkündete das Grundgesetz über die Reichsvertretung
und die Landesordnungen als die Ausführungsgesetze zum Diplom. Die Ver¬
fassung vom 21. December 1867 endlich nennt sich wieder "Gesetz, wodurch
das Grundgesetz über die Reichsvertretung vom 26. Februar 1861 abge¬
ändert wird", zählt in §. 11 die Befugnisse des Reichsraths auf und sagt im
folgenden, daß alle hier nicht ausdrücklich dem Reichsrathe vorbehaltenen
Gegenstände der Gesetzgebung in den Wirkungskreis der Landtage gehören
und in und mit diesem verfassungsmäßig erledigt werden sollen; nur wenn
"ein Landtag beschließen sollte, daß ein ihm überlassener Gegenstand der Ge¬
setzgebung im Reichsrath behandelt und erledigt werde, so übergeht (Reichs-
raths-Deutsch!) ein solcher Gegenstand für diesen Fall und rücksichtltch des
betreffenden Landtags in den Wirkungskreis des Reichsraths." Daß die
Verfassungsgesetze von 1861 und 1867 dem Octoberdiplom in Form von
Emendationen Zwang anthun, ist unleugbar und von der staatsrechtlichen
Opposition stets hervorgehoben worden, welche zum Theil hiermit ihren
passiven Widerstand begründet. Aber formell wurde immer die Rechtsbe-
ständigkeit des Diploms anerkannt, und die angezogenen Paragraphen der
neuesten Verfassung geben nicht den mindesten Vorwand dafür, durch den
Reichsrath den Landtagen ein Grundrecht aberkennen zu lassen. Als die
Frage der directen Wahlen zuerst auf das Tapet kam, war es die Regierung
selbst, welche dieses Verhältniß geltend machte; darauf hin erklärte der nieder¬
östreichische Landtag, freiwillig auf sein Wahlrecht verzichten zu wollen, doch
wurde ihm erwidert, daß nicht ein Kronland durch directe Wahlen den im Uevri-
gen aus Landtagswahlen hervorgegangenen Reichsrath beschicken könne. Das
Sonderbarste beider Sache ist nun, daß dieselbe Partei, welche in verfassungs¬
widrigen Wege die Wahlreform durchsetzen will, das Feldgeschrei erhebt:
Aufrechthaltung der Verfassung!

Ungeschickt ist dieses Manöver freilich nicht. Die große Menge gibt sich


wissen. Zu dem Zwecke sollten Landtage und Reichsrath aufgelöst, die
Neuwahlen aber ausdrücklich behufs der Verfassungsrevision ausgeschrieben
werden.

Unserer Meinung nach kann keinen Augenblick zweifelhaft sein, auf welcher
Seite das Recht und der politische Verstand zu finden seien. Das ganze
Verfassungswesen in Oestreich beruht aus dem Diplom vom 20. October
1860, in dessen erstem Paragraphen es heißt: „Das Recht, Gesetze zu
geben, abzuändern und aufzuheben wird von Uns und Unsern Nachfol¬
gern nur unter Mitwirkung der gesetzlich versammelten Landtage, be¬
ziehungsweise des Reichsraths, ausgeübt werden, zu welchem die Land¬
tage die von Uns festgesetzte Zahl Mitglieder zu entsenden haben." Die
Verfassung vom 26. Februar 1861 wiederholte die entscheidenden Worte dieses
Satzes ausdrücklich und verkündete das Grundgesetz über die Reichsvertretung
und die Landesordnungen als die Ausführungsgesetze zum Diplom. Die Ver¬
fassung vom 21. December 1867 endlich nennt sich wieder „Gesetz, wodurch
das Grundgesetz über die Reichsvertretung vom 26. Februar 1861 abge¬
ändert wird", zählt in §. 11 die Befugnisse des Reichsraths auf und sagt im
folgenden, daß alle hier nicht ausdrücklich dem Reichsrathe vorbehaltenen
Gegenstände der Gesetzgebung in den Wirkungskreis der Landtage gehören
und in und mit diesem verfassungsmäßig erledigt werden sollen; nur wenn
„ein Landtag beschließen sollte, daß ein ihm überlassener Gegenstand der Ge¬
setzgebung im Reichsrath behandelt und erledigt werde, so übergeht (Reichs-
raths-Deutsch!) ein solcher Gegenstand für diesen Fall und rücksichtltch des
betreffenden Landtags in den Wirkungskreis des Reichsraths." Daß die
Verfassungsgesetze von 1861 und 1867 dem Octoberdiplom in Form von
Emendationen Zwang anthun, ist unleugbar und von der staatsrechtlichen
Opposition stets hervorgehoben worden, welche zum Theil hiermit ihren
passiven Widerstand begründet. Aber formell wurde immer die Rechtsbe-
ständigkeit des Diploms anerkannt, und die angezogenen Paragraphen der
neuesten Verfassung geben nicht den mindesten Vorwand dafür, durch den
Reichsrath den Landtagen ein Grundrecht aberkennen zu lassen. Als die
Frage der directen Wahlen zuerst auf das Tapet kam, war es die Regierung
selbst, welche dieses Verhältniß geltend machte; darauf hin erklärte der nieder¬
östreichische Landtag, freiwillig auf sein Wahlrecht verzichten zu wollen, doch
wurde ihm erwidert, daß nicht ein Kronland durch directe Wahlen den im Uevri-
gen aus Landtagswahlen hervorgegangenen Reichsrath beschicken könne. Das
Sonderbarste beider Sache ist nun, daß dieselbe Partei, welche in verfassungs¬
widrigen Wege die Wahlreform durchsetzen will, das Feldgeschrei erhebt:
Aufrechthaltung der Verfassung!

Ungeschickt ist dieses Manöver freilich nicht. Die große Menge gibt sich


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[0136] wissen. Zu dem Zwecke sollten Landtage und Reichsrath aufgelöst, die Neuwahlen aber ausdrücklich behufs der Verfassungsrevision ausgeschrieben werden. Unserer Meinung nach kann keinen Augenblick zweifelhaft sein, auf welcher Seite das Recht und der politische Verstand zu finden seien. Das ganze Verfassungswesen in Oestreich beruht aus dem Diplom vom 20. October 1860, in dessen erstem Paragraphen es heißt: „Das Recht, Gesetze zu geben, abzuändern und aufzuheben wird von Uns und Unsern Nachfol¬ gern nur unter Mitwirkung der gesetzlich versammelten Landtage, be¬ ziehungsweise des Reichsraths, ausgeübt werden, zu welchem die Land¬ tage die von Uns festgesetzte Zahl Mitglieder zu entsenden haben." Die Verfassung vom 26. Februar 1861 wiederholte die entscheidenden Worte dieses Satzes ausdrücklich und verkündete das Grundgesetz über die Reichsvertretung und die Landesordnungen als die Ausführungsgesetze zum Diplom. Die Ver¬ fassung vom 21. December 1867 endlich nennt sich wieder „Gesetz, wodurch das Grundgesetz über die Reichsvertretung vom 26. Februar 1861 abge¬ ändert wird", zählt in §. 11 die Befugnisse des Reichsraths auf und sagt im folgenden, daß alle hier nicht ausdrücklich dem Reichsrathe vorbehaltenen Gegenstände der Gesetzgebung in den Wirkungskreis der Landtage gehören und in und mit diesem verfassungsmäßig erledigt werden sollen; nur wenn „ein Landtag beschließen sollte, daß ein ihm überlassener Gegenstand der Ge¬ setzgebung im Reichsrath behandelt und erledigt werde, so übergeht (Reichs- raths-Deutsch!) ein solcher Gegenstand für diesen Fall und rücksichtltch des betreffenden Landtags in den Wirkungskreis des Reichsraths." Daß die Verfassungsgesetze von 1861 und 1867 dem Octoberdiplom in Form von Emendationen Zwang anthun, ist unleugbar und von der staatsrechtlichen Opposition stets hervorgehoben worden, welche zum Theil hiermit ihren passiven Widerstand begründet. Aber formell wurde immer die Rechtsbe- ständigkeit des Diploms anerkannt, und die angezogenen Paragraphen der neuesten Verfassung geben nicht den mindesten Vorwand dafür, durch den Reichsrath den Landtagen ein Grundrecht aberkennen zu lassen. Als die Frage der directen Wahlen zuerst auf das Tapet kam, war es die Regierung selbst, welche dieses Verhältniß geltend machte; darauf hin erklärte der nieder¬ östreichische Landtag, freiwillig auf sein Wahlrecht verzichten zu wollen, doch wurde ihm erwidert, daß nicht ein Kronland durch directe Wahlen den im Uevri- gen aus Landtagswahlen hervorgegangenen Reichsrath beschicken könne. Das Sonderbarste beider Sache ist nun, daß dieselbe Partei, welche in verfassungs¬ widrigen Wege die Wahlreform durchsetzen will, das Feldgeschrei erhebt: Aufrechthaltung der Verfassung! Ungeschickt ist dieses Manöver freilich nicht. Die große Menge gibt sich

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123087/136>, abgerufen am 26.06.2024.