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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. I. Band.

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Aus Deutsch^Oestreich.

Die nächsten Tage sollen uns darüber Entscheidung bringen, welche der
beiden Parteien, in welche unser Bürgerministerium sich gespalten hat, als
Siegerin aus dem Kampf der Memoranden hervorgeht. -- Man wird auch
bei Ihnen wissen, daß der Sieg sich auf die Seite der Majorität neigt und
daß dem in seinem Sinne ausfallenden Votum des Reichsraths die kaiser¬
liche Entschließung parallel laufen wird. Auf die Gefahr hin, von den Er¬
eignissen überholt zu werden, unternehme ich es, Ihnen die beiden feind¬
lichen Programme in ihren Umrissen und ihrer Tragweite zu skizziren.

Beide Parteien im Ministerium, Majorität und Minorität sehen ein.
daß die jetzige Reichsvertretung einer anderen Platz machen muß. Sowohl
die Landtagswahlordnungen wie das Gesetz über die Wahl der Reichs¬
rathsabgeordneten durch die Landtage und aus denselben, waren erson¬
nen um Minoritäten das Uebergewicht zu verleihen, Minoritäten im
Sinne der Nationalität und Minoritäten unter den Steuerzahlern. Die
Zurückgesetzten oder Ausgeschlossenen laufen gegen dieses System Sturm,
außerdem hat sich der Mißstand ergeben, daß nur Männer, welche aus
der Politik ein Geschäft (im guten oder schlimmen Verstände) machen
oder in Wien Ansässige die Wahl in den Reichsrath annehmen können.
Wer daheim ein Geschäft hat, und nicht sein Votum verkaufen will, kann
unmöglich ein Vierteljahr im Landtage und ein Halbjahr im Reichsrathe
sitzen. Also eine Reichsrath aus directen Wahlen, unabhängig von den Land¬
tagen. Bekanntlich wurde diese Frage den Landtagen vorgelegt und es er¬
folgten beinah ebenso viele verschiedene Antworten als es Landtage gibt. Nun
ist die Absicht der Majorität des Ministeriums (Giskra, Herbst, Hafner,
Brestel, Pierer). das neue Wahlgesetz durch den Reichsrath decretiren zu
lassen. Die Minorität (Taaffe, Graf Potocki und Berger) erklärte dagegen,
diese Wahlreform für ungenügend, die beabsichtigte Art der Einführung
derselben für ungesetzlich. Sie wollten nicht nur die Minderbegüterten in
den deutschen Ländern sondern auch die grollenden Slaven herangezogen



") Während des Drucks dieser Blätter haben die Zeitungen die Nachricht von der Be-
"ndigung der Wiener Krisis und dem Siege der Majorität des cisleithanischen Ministeriunis
gebracht. Wenn wir nichtsdestoweniger das vorliegende, vor der Entscheidung eingegangene
Schreiben unseres Wiener Correspondenten zum Abdruck bringen, so geschieht es, weil das¬
selbe die Schwierigkeiten, welche der Durchführung des Giskra'schen Programms noch gegen¬
wärtig entgegenstehen, mit großer Schärfe zeichnet und im Uebrigen wesentlich den Stand-
Punkt bezeichnet, den wir zu der östreichischen Verfassungsfrage einnehmen und von dem aus
die in Wien beliebte Lösung als vergeblicher Versuch erscheint, unhaltbar gewordene Verhält¬
D. Red. nisse weiter zu fristen.
Grenzboten 1. 1870. 17
Aus Deutsch^Oestreich.

Die nächsten Tage sollen uns darüber Entscheidung bringen, welche der
beiden Parteien, in welche unser Bürgerministerium sich gespalten hat, als
Siegerin aus dem Kampf der Memoranden hervorgeht. — Man wird auch
bei Ihnen wissen, daß der Sieg sich auf die Seite der Majorität neigt und
daß dem in seinem Sinne ausfallenden Votum des Reichsraths die kaiser¬
liche Entschließung parallel laufen wird. Auf die Gefahr hin, von den Er¬
eignissen überholt zu werden, unternehme ich es, Ihnen die beiden feind¬
lichen Programme in ihren Umrissen und ihrer Tragweite zu skizziren.

Beide Parteien im Ministerium, Majorität und Minorität sehen ein.
daß die jetzige Reichsvertretung einer anderen Platz machen muß. Sowohl
die Landtagswahlordnungen wie das Gesetz über die Wahl der Reichs¬
rathsabgeordneten durch die Landtage und aus denselben, waren erson¬
nen um Minoritäten das Uebergewicht zu verleihen, Minoritäten im
Sinne der Nationalität und Minoritäten unter den Steuerzahlern. Die
Zurückgesetzten oder Ausgeschlossenen laufen gegen dieses System Sturm,
außerdem hat sich der Mißstand ergeben, daß nur Männer, welche aus
der Politik ein Geschäft (im guten oder schlimmen Verstände) machen
oder in Wien Ansässige die Wahl in den Reichsrath annehmen können.
Wer daheim ein Geschäft hat, und nicht sein Votum verkaufen will, kann
unmöglich ein Vierteljahr im Landtage und ein Halbjahr im Reichsrathe
sitzen. Also eine Reichsrath aus directen Wahlen, unabhängig von den Land¬
tagen. Bekanntlich wurde diese Frage den Landtagen vorgelegt und es er¬
folgten beinah ebenso viele verschiedene Antworten als es Landtage gibt. Nun
ist die Absicht der Majorität des Ministeriums (Giskra, Herbst, Hafner,
Brestel, Pierer). das neue Wahlgesetz durch den Reichsrath decretiren zu
lassen. Die Minorität (Taaffe, Graf Potocki und Berger) erklärte dagegen,
diese Wahlreform für ungenügend, die beabsichtigte Art der Einführung
derselben für ungesetzlich. Sie wollten nicht nur die Minderbegüterten in
den deutschen Ländern sondern auch die grollenden Slaven herangezogen



") Während des Drucks dieser Blätter haben die Zeitungen die Nachricht von der Be-
«ndigung der Wiener Krisis und dem Siege der Majorität des cisleithanischen Ministeriunis
gebracht. Wenn wir nichtsdestoweniger das vorliegende, vor der Entscheidung eingegangene
Schreiben unseres Wiener Correspondenten zum Abdruck bringen, so geschieht es, weil das¬
selbe die Schwierigkeiten, welche der Durchführung des Giskra'schen Programms noch gegen¬
wärtig entgegenstehen, mit großer Schärfe zeichnet und im Uebrigen wesentlich den Stand-
Punkt bezeichnet, den wir zu der östreichischen Verfassungsfrage einnehmen und von dem aus
die in Wien beliebte Lösung als vergeblicher Versuch erscheint, unhaltbar gewordene Verhält¬
D. Red. nisse weiter zu fristen.
Grenzboten 1. 1870. 17
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[0135] Aus Deutsch^Oestreich. Die nächsten Tage sollen uns darüber Entscheidung bringen, welche der beiden Parteien, in welche unser Bürgerministerium sich gespalten hat, als Siegerin aus dem Kampf der Memoranden hervorgeht. — Man wird auch bei Ihnen wissen, daß der Sieg sich auf die Seite der Majorität neigt und daß dem in seinem Sinne ausfallenden Votum des Reichsraths die kaiser¬ liche Entschließung parallel laufen wird. Auf die Gefahr hin, von den Er¬ eignissen überholt zu werden, unternehme ich es, Ihnen die beiden feind¬ lichen Programme in ihren Umrissen und ihrer Tragweite zu skizziren. Beide Parteien im Ministerium, Majorität und Minorität sehen ein. daß die jetzige Reichsvertretung einer anderen Platz machen muß. Sowohl die Landtagswahlordnungen wie das Gesetz über die Wahl der Reichs¬ rathsabgeordneten durch die Landtage und aus denselben, waren erson¬ nen um Minoritäten das Uebergewicht zu verleihen, Minoritäten im Sinne der Nationalität und Minoritäten unter den Steuerzahlern. Die Zurückgesetzten oder Ausgeschlossenen laufen gegen dieses System Sturm, außerdem hat sich der Mißstand ergeben, daß nur Männer, welche aus der Politik ein Geschäft (im guten oder schlimmen Verstände) machen oder in Wien Ansässige die Wahl in den Reichsrath annehmen können. Wer daheim ein Geschäft hat, und nicht sein Votum verkaufen will, kann unmöglich ein Vierteljahr im Landtage und ein Halbjahr im Reichsrathe sitzen. Also eine Reichsrath aus directen Wahlen, unabhängig von den Land¬ tagen. Bekanntlich wurde diese Frage den Landtagen vorgelegt und es er¬ folgten beinah ebenso viele verschiedene Antworten als es Landtage gibt. Nun ist die Absicht der Majorität des Ministeriums (Giskra, Herbst, Hafner, Brestel, Pierer). das neue Wahlgesetz durch den Reichsrath decretiren zu lassen. Die Minorität (Taaffe, Graf Potocki und Berger) erklärte dagegen, diese Wahlreform für ungenügend, die beabsichtigte Art der Einführung derselben für ungesetzlich. Sie wollten nicht nur die Minderbegüterten in den deutschen Ländern sondern auch die grollenden Slaven herangezogen ") Während des Drucks dieser Blätter haben die Zeitungen die Nachricht von der Be- «ndigung der Wiener Krisis und dem Siege der Majorität des cisleithanischen Ministeriunis gebracht. Wenn wir nichtsdestoweniger das vorliegende, vor der Entscheidung eingegangene Schreiben unseres Wiener Correspondenten zum Abdruck bringen, so geschieht es, weil das¬ selbe die Schwierigkeiten, welche der Durchführung des Giskra'schen Programms noch gegen¬ wärtig entgegenstehen, mit großer Schärfe zeichnet und im Uebrigen wesentlich den Stand- Punkt bezeichnet, den wir zu der östreichischen Verfassungsfrage einnehmen und von dem aus die in Wien beliebte Lösung als vergeblicher Versuch erscheint, unhaltbar gewordene Verhält¬ D. Red. nisse weiter zu fristen. Grenzboten 1. 1870. 17

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123087/135>, abgerufen am 26.06.2024.