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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. I. Band.

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stehen.^Aber nur politische Naivetät kann glauben, daß er seine Ueberzeugung
geändert und sich zum Parlamentarismus bekehrt habe. Ein verhältnißmäßig
junger Mann wie Franz Josef I. mag unter den Schlägen, welche Oestreich
betroffen, zu der Ansicht gedrängt werden, es gehe mit dem Absolutismus
nicht weiter, aber ein dem Greisenalter nahestehender Herrscher, der sein
ganzes Leben gegen das parlamentarische Regiment geschrieben und gesprochen,
der wenigstens was Frankreich betrifft theoretisch die UnHaltbarkeit dieser Re¬
gierungsart verfocht und dieselbe praktisch durch den Staatsstreich vernichtete,
gibt seinen mit fatalistischer Consequenz festgehaltenen Ansichten kein De¬
menti. Der Wechsel, dessen Entwickelung wir jetzt sehen, ist ihm von seinen
Gegnern aufgezwungen, er fügt sich und pocht nicht wie Karl X. und Guizot
auf eine nominelle Majorität in der Kammer, weil er fühlt, daß Wider¬
streben die Opposition noch steigern würde, aber er hat, dessen sind wir
sicher, auf keine seiner Ideen verzichtet und rechnet darauf, daß das Experi¬
ment, für welches er jetzt mit Loyalität freie Bahn gibt, mißlingen wird.
Man bemerke nur, wie bezeichnend die Worte seiner Thronrede waren: "Ich
garantire die Ordnung, helfen Sie mir, die Freiheit zu retten." Wenn sich
aber nun der neue Parlamentarismus unfähig erweist, die Freiheit mit der
Ordnung zu versöhnen, so wird der Kaiser, der trotz aller Concessionen mit Armee
und Bureaukratie doch noch die größte Macht in Frankreich ist, nicht auf dem
Platze fehlen, wenn es sich wieder um die Rettung der Gesellschaft vor der
Anarchie handelt.

Dies sind, von den persönlichen Fehlern abgesehen, welche ein so eitler
und zweifelhafter Mann wie Olltvier schwerlich vermeiden wird, die nächsten
und größten Schwierigkeiten, welche das Ministerium zu überwinden haben
wird, wenn der erste Jubel seines Honigmondes vorüber ist. Von den noch
weit größeren, die es haben muß, ein seit 18 Jahren aller Freiheit beraubtes,
seit Jahrhunderten bureaukratisch centralisirtes Land zum weisen Gebrauch
der repräsentativen Regierung zu erziehen, wollen wir noch gar nicht reden;
es ist genug, daß ein jeglicher Tag seine Plage habe und die Aufgabe des
heutigen Tages ist so groß, daß wir vorläufig noch an der Kraft des Mi¬
nisteriums, sie zu lösen, bescheidene Zweifel hegen.




stehen.^Aber nur politische Naivetät kann glauben, daß er seine Ueberzeugung
geändert und sich zum Parlamentarismus bekehrt habe. Ein verhältnißmäßig
junger Mann wie Franz Josef I. mag unter den Schlägen, welche Oestreich
betroffen, zu der Ansicht gedrängt werden, es gehe mit dem Absolutismus
nicht weiter, aber ein dem Greisenalter nahestehender Herrscher, der sein
ganzes Leben gegen das parlamentarische Regiment geschrieben und gesprochen,
der wenigstens was Frankreich betrifft theoretisch die UnHaltbarkeit dieser Re¬
gierungsart verfocht und dieselbe praktisch durch den Staatsstreich vernichtete,
gibt seinen mit fatalistischer Consequenz festgehaltenen Ansichten kein De¬
menti. Der Wechsel, dessen Entwickelung wir jetzt sehen, ist ihm von seinen
Gegnern aufgezwungen, er fügt sich und pocht nicht wie Karl X. und Guizot
auf eine nominelle Majorität in der Kammer, weil er fühlt, daß Wider¬
streben die Opposition noch steigern würde, aber er hat, dessen sind wir
sicher, auf keine seiner Ideen verzichtet und rechnet darauf, daß das Experi¬
ment, für welches er jetzt mit Loyalität freie Bahn gibt, mißlingen wird.
Man bemerke nur, wie bezeichnend die Worte seiner Thronrede waren: „Ich
garantire die Ordnung, helfen Sie mir, die Freiheit zu retten." Wenn sich
aber nun der neue Parlamentarismus unfähig erweist, die Freiheit mit der
Ordnung zu versöhnen, so wird der Kaiser, der trotz aller Concessionen mit Armee
und Bureaukratie doch noch die größte Macht in Frankreich ist, nicht auf dem
Platze fehlen, wenn es sich wieder um die Rettung der Gesellschaft vor der
Anarchie handelt.

Dies sind, von den persönlichen Fehlern abgesehen, welche ein so eitler
und zweifelhafter Mann wie Olltvier schwerlich vermeiden wird, die nächsten
und größten Schwierigkeiten, welche das Ministerium zu überwinden haben
wird, wenn der erste Jubel seines Honigmondes vorüber ist. Von den noch
weit größeren, die es haben muß, ein seit 18 Jahren aller Freiheit beraubtes,
seit Jahrhunderten bureaukratisch centralisirtes Land zum weisen Gebrauch
der repräsentativen Regierung zu erziehen, wollen wir noch gar nicht reden;
es ist genug, daß ein jeglicher Tag seine Plage habe und die Aufgabe des
heutigen Tages ist so groß, daß wir vorläufig noch an der Kraft des Mi¬
nisteriums, sie zu lösen, bescheidene Zweifel hegen.




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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123087/134>, abgerufen am 26.06.2024.