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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. I. Band.

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Capellen, welche diesen Raum ausfüllen und auf den Beschauer eindringen,
lassen keinen einheitlichen Eindruck aufkommen und Kunstkenner werden
schwerlich ermangeln, an der Raumvertheilung und dem Verhältniß des Lang¬
hauses zu den Seitenschiffen begründete Ausstellungen zu machen. Ueber Recht
oder Unrecht derselben vermag ich nicht Aufschluß zu geben, denn zur Kritik bin
ich in den Stunden nicht gelangt, in denen die Vergangenheit der polnischen
Westminsterabtei ihre erschütternde Sprache zu mir redete. Ich habe viele Kirchen
gesehen, aber keine hat einen so bewältigenden Eindruck auf mich gemacht,
wie diese Kathedrale Alt-Polens, von der die Kunstgeschichte Nichts oder
doch nur sehr wenig weiß. Diese Kirche ist mehr, wie das Product ein er
Epoche, in welcher religiöses und nationales Bewußtsein einander völlig
durchdrungen hatten -- der Katholicismus, der aus diesen Steinen
redet, ist lebendig, er hat mit dem polnischen Nationalbewußtsein einen
Bund geschlossen, der heute ebenso unauflöslich ist, wie in den Tagen
Kasimirs des Großen. Nicht das polnische Mittelalter, die gesammte pol¬
nische Geschichte, die älteste wie die neueste, ist in diesem Dom ver¬
körpert, der zugleich die laute Sprache der Todten und das Geflüster der
Lebendigen, Unterdrückten redet. -- In der Mitte des Hauptschiffs, nahe dem
Eingang und den Hochaltar verdeckend (die Kirche zählt im Ganzen fünfzig Al¬
tare), ruht, von den Flügeln silberner Cherubim getragen, auf mit reichem
Silber-Laubwerk verziertem Postament der Sarg des Schutzpatrons von
Polen, des heiligen Stanislaw, ganz aus getriebenem Silber gearbeitet und
mit zahllosen Figuren in halb-erhabener Arbeit bedeckt. Stanislaw Sze-
panow war im 11. Jahrhundert Bischof von Krakau und wurde am Altar
der Michaelskirche von Boleslaw dem Kühnen während des Gottesdienstes
und vor versammelter Gemeinde erschlagen, weil er des Königs zuchtlose
Wüstheit getadelt und mit dem Bann der Kirche bedroht hatte. Schon 1248
von Innocenz IV. heilig gesprochen, ist er der Heilige seines Volkes ge¬
worden, sein Grabmal ruht an dem geweihtesten Ort polnischer Erde und
die andächtigen Krakusengestalten, die vor seinem Sarge knien, bezeugen, daß
sein Gedächtniß im Herzen seines Volks bis auf diesen Tag nicht erloschen ist.

Noch ist die Messe nicht beendet, noch tönt Gesang vom Hochaltar, an
dessen Stufen sechs bärtige Männer ungeheuere Kerzen in den Händen haltend,
knien; die Zahl der Gläubigen, die sich versammelt hat, ist zu groß, als daß
die kleine Schaar Fremder, welche sich zum Besuch der Schatzkammer, der
Capellen und der Krypta am Portal versammelt hat, vorrücken könnte ohne
die Beter zu stören. Von den galonnirten Portiers ist keine Spur zu sehen,
die in den katholischen Kirchen Deutschlands Kirchenpolizei üben, aber es herrscht
allenthalben andächtige Ruhe, die Niemand zu stören wagt. Während ein
Theil der Gemeinde an der Messe Theil nimmt, Andere sich um die dicht-


Capellen, welche diesen Raum ausfüllen und auf den Beschauer eindringen,
lassen keinen einheitlichen Eindruck aufkommen und Kunstkenner werden
schwerlich ermangeln, an der Raumvertheilung und dem Verhältniß des Lang¬
hauses zu den Seitenschiffen begründete Ausstellungen zu machen. Ueber Recht
oder Unrecht derselben vermag ich nicht Aufschluß zu geben, denn zur Kritik bin
ich in den Stunden nicht gelangt, in denen die Vergangenheit der polnischen
Westminsterabtei ihre erschütternde Sprache zu mir redete. Ich habe viele Kirchen
gesehen, aber keine hat einen so bewältigenden Eindruck auf mich gemacht,
wie diese Kathedrale Alt-Polens, von der die Kunstgeschichte Nichts oder
doch nur sehr wenig weiß. Diese Kirche ist mehr, wie das Product ein er
Epoche, in welcher religiöses und nationales Bewußtsein einander völlig
durchdrungen hatten — der Katholicismus, der aus diesen Steinen
redet, ist lebendig, er hat mit dem polnischen Nationalbewußtsein einen
Bund geschlossen, der heute ebenso unauflöslich ist, wie in den Tagen
Kasimirs des Großen. Nicht das polnische Mittelalter, die gesammte pol¬
nische Geschichte, die älteste wie die neueste, ist in diesem Dom ver¬
körpert, der zugleich die laute Sprache der Todten und das Geflüster der
Lebendigen, Unterdrückten redet. — In der Mitte des Hauptschiffs, nahe dem
Eingang und den Hochaltar verdeckend (die Kirche zählt im Ganzen fünfzig Al¬
tare), ruht, von den Flügeln silberner Cherubim getragen, auf mit reichem
Silber-Laubwerk verziertem Postament der Sarg des Schutzpatrons von
Polen, des heiligen Stanislaw, ganz aus getriebenem Silber gearbeitet und
mit zahllosen Figuren in halb-erhabener Arbeit bedeckt. Stanislaw Sze-
panow war im 11. Jahrhundert Bischof von Krakau und wurde am Altar
der Michaelskirche von Boleslaw dem Kühnen während des Gottesdienstes
und vor versammelter Gemeinde erschlagen, weil er des Königs zuchtlose
Wüstheit getadelt und mit dem Bann der Kirche bedroht hatte. Schon 1248
von Innocenz IV. heilig gesprochen, ist er der Heilige seines Volkes ge¬
worden, sein Grabmal ruht an dem geweihtesten Ort polnischer Erde und
die andächtigen Krakusengestalten, die vor seinem Sarge knien, bezeugen, daß
sein Gedächtniß im Herzen seines Volks bis auf diesen Tag nicht erloschen ist.

Noch ist die Messe nicht beendet, noch tönt Gesang vom Hochaltar, an
dessen Stufen sechs bärtige Männer ungeheuere Kerzen in den Händen haltend,
knien; die Zahl der Gläubigen, die sich versammelt hat, ist zu groß, als daß
die kleine Schaar Fremder, welche sich zum Besuch der Schatzkammer, der
Capellen und der Krypta am Portal versammelt hat, vorrücken könnte ohne
die Beter zu stören. Von den galonnirten Portiers ist keine Spur zu sehen,
die in den katholischen Kirchen Deutschlands Kirchenpolizei üben, aber es herrscht
allenthalben andächtige Ruhe, die Niemand zu stören wagt. Während ein
Theil der Gemeinde an der Messe Theil nimmt, Andere sich um die dicht-


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[0118] Capellen, welche diesen Raum ausfüllen und auf den Beschauer eindringen, lassen keinen einheitlichen Eindruck aufkommen und Kunstkenner werden schwerlich ermangeln, an der Raumvertheilung und dem Verhältniß des Lang¬ hauses zu den Seitenschiffen begründete Ausstellungen zu machen. Ueber Recht oder Unrecht derselben vermag ich nicht Aufschluß zu geben, denn zur Kritik bin ich in den Stunden nicht gelangt, in denen die Vergangenheit der polnischen Westminsterabtei ihre erschütternde Sprache zu mir redete. Ich habe viele Kirchen gesehen, aber keine hat einen so bewältigenden Eindruck auf mich gemacht, wie diese Kathedrale Alt-Polens, von der die Kunstgeschichte Nichts oder doch nur sehr wenig weiß. Diese Kirche ist mehr, wie das Product ein er Epoche, in welcher religiöses und nationales Bewußtsein einander völlig durchdrungen hatten — der Katholicismus, der aus diesen Steinen redet, ist lebendig, er hat mit dem polnischen Nationalbewußtsein einen Bund geschlossen, der heute ebenso unauflöslich ist, wie in den Tagen Kasimirs des Großen. Nicht das polnische Mittelalter, die gesammte pol¬ nische Geschichte, die älteste wie die neueste, ist in diesem Dom ver¬ körpert, der zugleich die laute Sprache der Todten und das Geflüster der Lebendigen, Unterdrückten redet. — In der Mitte des Hauptschiffs, nahe dem Eingang und den Hochaltar verdeckend (die Kirche zählt im Ganzen fünfzig Al¬ tare), ruht, von den Flügeln silberner Cherubim getragen, auf mit reichem Silber-Laubwerk verziertem Postament der Sarg des Schutzpatrons von Polen, des heiligen Stanislaw, ganz aus getriebenem Silber gearbeitet und mit zahllosen Figuren in halb-erhabener Arbeit bedeckt. Stanislaw Sze- panow war im 11. Jahrhundert Bischof von Krakau und wurde am Altar der Michaelskirche von Boleslaw dem Kühnen während des Gottesdienstes und vor versammelter Gemeinde erschlagen, weil er des Königs zuchtlose Wüstheit getadelt und mit dem Bann der Kirche bedroht hatte. Schon 1248 von Innocenz IV. heilig gesprochen, ist er der Heilige seines Volkes ge¬ worden, sein Grabmal ruht an dem geweihtesten Ort polnischer Erde und die andächtigen Krakusengestalten, die vor seinem Sarge knien, bezeugen, daß sein Gedächtniß im Herzen seines Volks bis auf diesen Tag nicht erloschen ist. Noch ist die Messe nicht beendet, noch tönt Gesang vom Hochaltar, an dessen Stufen sechs bärtige Männer ungeheuere Kerzen in den Händen haltend, knien; die Zahl der Gläubigen, die sich versammelt hat, ist zu groß, als daß die kleine Schaar Fremder, welche sich zum Besuch der Schatzkammer, der Capellen und der Krypta am Portal versammelt hat, vorrücken könnte ohne die Beter zu stören. Von den galonnirten Portiers ist keine Spur zu sehen, die in den katholischen Kirchen Deutschlands Kirchenpolizei üben, aber es herrscht allenthalben andächtige Ruhe, die Niemand zu stören wagt. Während ein Theil der Gemeinde an der Messe Theil nimmt, Andere sich um die dicht-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123087/118>, abgerufen am 26.06.2024.