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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. I. Band.

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andere, die ihr charakteristisches Gesicht am deutlichsten zeigen, wenn der
Wanderer, der sich ihrem Anblick zugewendet, über schlechtes Wetter zu klagen
hat und gewohnheitsmäßig nach der Sonne seufzt "der Mutter der Freuden".
Gerade wie gewisse Partien des Harzes den rechten Eindruck erst machen,
wenn über ihnen der graue Himmel hängt, der zu ihrer düsteren, zerrissenen
Physionomie paßt, gibt es Städte, die nur wenn sie grau in Grau gemalt
erscheinen, die Wahrheit sagen. Und daß die alte, von der vergangenen
Herrlichkeit eines vergangenen Staats redende Piastenstadt an der Weichsel
zu diesen Städten gehört, wird Niemand leugnen, der sich mit einiger Theil¬
nahme in ihren melancholischen Anblick versenkt hat. Obgleich die ältesten
und interessantesten Theile des polnischen Moskau durch die große Feuers¬
brunst von 18S0 zerstört und in ziemlich nichtssagenden Stile erneuert wor¬
den sind, hat die Stadt ihr alterthümliches Ansehen unbeirrt durch den
Wechsel der Zeiten conservirt. Obgleich sie blos 40,000 Einwohner (dar¬
unter 14,000 Juden) zählt und auf den meisten Gassen ebenso viel Häuser
wie Menschen zu sehen sind, macht sie einen vornehmen, statiöser Eindruck.
neununddreißig Kirchen und zahlreiche Gebäude, die öffentlichen Zwecken
dienen oder gedient haben, erinnern daran, daß hier der Sitz eines mäch¬
tigen Reichs, der Mittelpunkt eines Volks von Völkern gewesen ist, das
sich als die Herrscherin des Ostens, die Vormauer der occidentalen Cultur¬
welt fühlte. Im Gegensatz zu den Städten des östlichen Galizien, die ihren
nationalen Charakter in steten Kämpfen mit russischen und akatholischen Ele¬
menten behaupten mußten und deren polnische Physionomie darum eine ge¬
wisse Absichtlichkeit verräth, zeigt Krakau die stolze Ruhe einer nationalen
Metropole, welche nie anders wie polnisch war und nie anders sein konnte;
die stolzen Thürme der Kirchen und Capellen, die aus Stadt und Vorstädten
gleich zahlreich emporragen, verkünden, daß die heute zurückgekommene, ver¬
armte und entvölkerte Stadt mit Sicherheit auf die Wiederherstellung ihrer
alten Herrlichkeit rechnet und fest entschlossen ist, die strenge Katholicität,
welche Polen von den übrigen Slavenstämmen trennte und der Republik zum
Verderben ward, unbeirrt zu behaupten.

Es war Sonntagmorgen und von allen Seiten riefen die Glocken zum
Gebet. Durch das prächtige siebenthürmige Floriansthor, das einzige Ueber-
bleibsel der alten gegen die Türkengefahr erbauten Befestigung von 1498 zogen
zahlreiche Landleute der Umgegend in die Stadt, um an den Gräbern der
Heiligen und Könige ihres Volks, die hier ihrer und des Reichs Aufer¬
stehung harren, zu beten -- schmucke kräftige Gestalten in einer Tracht,
die außerhalb der severischen Landschaft nicht gefunden wird. Statt der pelz¬
verbrämten viereckigen Mütze (Konfederadka), die zum nationalen Costüm der
Städter gehört und auch bei den mcisurischen Bauern die Regel bildet und neuer-


andere, die ihr charakteristisches Gesicht am deutlichsten zeigen, wenn der
Wanderer, der sich ihrem Anblick zugewendet, über schlechtes Wetter zu klagen
hat und gewohnheitsmäßig nach der Sonne seufzt „der Mutter der Freuden".
Gerade wie gewisse Partien des Harzes den rechten Eindruck erst machen,
wenn über ihnen der graue Himmel hängt, der zu ihrer düsteren, zerrissenen
Physionomie paßt, gibt es Städte, die nur wenn sie grau in Grau gemalt
erscheinen, die Wahrheit sagen. Und daß die alte, von der vergangenen
Herrlichkeit eines vergangenen Staats redende Piastenstadt an der Weichsel
zu diesen Städten gehört, wird Niemand leugnen, der sich mit einiger Theil¬
nahme in ihren melancholischen Anblick versenkt hat. Obgleich die ältesten
und interessantesten Theile des polnischen Moskau durch die große Feuers¬
brunst von 18S0 zerstört und in ziemlich nichtssagenden Stile erneuert wor¬
den sind, hat die Stadt ihr alterthümliches Ansehen unbeirrt durch den
Wechsel der Zeiten conservirt. Obgleich sie blos 40,000 Einwohner (dar¬
unter 14,000 Juden) zählt und auf den meisten Gassen ebenso viel Häuser
wie Menschen zu sehen sind, macht sie einen vornehmen, statiöser Eindruck.
neununddreißig Kirchen und zahlreiche Gebäude, die öffentlichen Zwecken
dienen oder gedient haben, erinnern daran, daß hier der Sitz eines mäch¬
tigen Reichs, der Mittelpunkt eines Volks von Völkern gewesen ist, das
sich als die Herrscherin des Ostens, die Vormauer der occidentalen Cultur¬
welt fühlte. Im Gegensatz zu den Städten des östlichen Galizien, die ihren
nationalen Charakter in steten Kämpfen mit russischen und akatholischen Ele¬
menten behaupten mußten und deren polnische Physionomie darum eine ge¬
wisse Absichtlichkeit verräth, zeigt Krakau die stolze Ruhe einer nationalen
Metropole, welche nie anders wie polnisch war und nie anders sein konnte;
die stolzen Thürme der Kirchen und Capellen, die aus Stadt und Vorstädten
gleich zahlreich emporragen, verkünden, daß die heute zurückgekommene, ver¬
armte und entvölkerte Stadt mit Sicherheit auf die Wiederherstellung ihrer
alten Herrlichkeit rechnet und fest entschlossen ist, die strenge Katholicität,
welche Polen von den übrigen Slavenstämmen trennte und der Republik zum
Verderben ward, unbeirrt zu behaupten.

Es war Sonntagmorgen und von allen Seiten riefen die Glocken zum
Gebet. Durch das prächtige siebenthürmige Floriansthor, das einzige Ueber-
bleibsel der alten gegen die Türkengefahr erbauten Befestigung von 1498 zogen
zahlreiche Landleute der Umgegend in die Stadt, um an den Gräbern der
Heiligen und Könige ihres Volks, die hier ihrer und des Reichs Aufer¬
stehung harren, zu beten — schmucke kräftige Gestalten in einer Tracht,
die außerhalb der severischen Landschaft nicht gefunden wird. Statt der pelz¬
verbrämten viereckigen Mütze (Konfederadka), die zum nationalen Costüm der
Städter gehört und auch bei den mcisurischen Bauern die Regel bildet und neuer-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123087/112>, abgerufen am 26.06.2024.