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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. I. Band.

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enger Beziehung. Dieses Recht besitzen gegenwärtig alle diejenigen, welche
einen gewissen Betrag an Staatssteuern bezahlen, einen Betrag, der je
nach dem Wohnort von zwanzig bis zu hundert und sechszig Gulden
aufsteigt. Auf diese Weise kommt auf eine Bevölkerung von stark
drei und einer halben Million ein Minimum von ungefähr hundert¬
tausend Wählern. Daß dieses Wahlgesetz seine großen Mängel hat,
ist unzweifelhaft und man ist in letzter Zeit allgemein von der Nothwendig¬
keit einer Veränderung desselben überzeugt. Allgemeine Wahlen verabscheut
man; der Holländer ist wohl liberal, aber die Demokratie erfüllt ihn mit
Schrecken. Als Händler legt er einen übertriebenen Werth auf den Besitz
irdischer Güter und ist er geneigt, den Werth des Menschen nach seinem Hab
und Gut zu schätzen. Er will dem Aermeren wohl gleiche persönliche Frei¬
heit gönnen, aber gleiche politische Berechtigung -- dazu kann er sich nicht
entschließen, weil er im Herzen Aristokrat ist. Vielleicht fühlt er auch, daß
das allgemeine Wahlrecht in den Händen eines so verkommenen Volkes ein
gar zu gefährliches Spielzeug wäre. Einstweilen ist diese Abneigung gegen
das allgemeine Stimmrecht ein Glück und die in Aussicht stehenden Ver¬
änderungen des Wahlgesetzes werden sich wohl nur auf eine mäßige Herab¬
setzung des Census beschränken.

Es erscheint erklärlich, wenn man die Holländer häufig eine erloschene
Nation nennt; aber das Feuer ist noch nicht ganz erstorben, es wird zuweilen
wieder angefacht und hin und wieder zeugen einzelne Erscheinungen, daß eine,
wenn auch schwache Wendung zum Besseren eingetreten ist. Mindestens die
Einsicht in die Mängel des gegenwärtigen Zustandes ist im Zunehmen be¬
griffen. Man sieht ein, daß unser Dasein etwas Greisenhaftes hat und daß
die Erinnerung an frühere ruhmvolle Tage zu unserer jetzigen Schwäche und
Furcht vor jugendkräftigen Nachbarn in traurigem Gegensatz steht, daß ein
sint ut sunt unmöglich geworden ist und wir nur zwischen Emannung und
langsamem aber sicherem Untergang zu wählen haben.




Ueisebildcr aus Galizien.
2. Krakau.

Ueber den Thürmen Krakaus war ein trüber mehliger Novembertag auf¬
gegangen, der mich die Kirchen und Palläste an denen ich vorüberwanderte
nur undeutlich und wie durch einen Vorhang sehen ließ. Es gibt Land¬
schaften und Orte, zu denen nothwendig ein strahlender Morgen gehört und


Grenzboten I. 1870. 14

enger Beziehung. Dieses Recht besitzen gegenwärtig alle diejenigen, welche
einen gewissen Betrag an Staatssteuern bezahlen, einen Betrag, der je
nach dem Wohnort von zwanzig bis zu hundert und sechszig Gulden
aufsteigt. Auf diese Weise kommt auf eine Bevölkerung von stark
drei und einer halben Million ein Minimum von ungefähr hundert¬
tausend Wählern. Daß dieses Wahlgesetz seine großen Mängel hat,
ist unzweifelhaft und man ist in letzter Zeit allgemein von der Nothwendig¬
keit einer Veränderung desselben überzeugt. Allgemeine Wahlen verabscheut
man; der Holländer ist wohl liberal, aber die Demokratie erfüllt ihn mit
Schrecken. Als Händler legt er einen übertriebenen Werth auf den Besitz
irdischer Güter und ist er geneigt, den Werth des Menschen nach seinem Hab
und Gut zu schätzen. Er will dem Aermeren wohl gleiche persönliche Frei¬
heit gönnen, aber gleiche politische Berechtigung — dazu kann er sich nicht
entschließen, weil er im Herzen Aristokrat ist. Vielleicht fühlt er auch, daß
das allgemeine Wahlrecht in den Händen eines so verkommenen Volkes ein
gar zu gefährliches Spielzeug wäre. Einstweilen ist diese Abneigung gegen
das allgemeine Stimmrecht ein Glück und die in Aussicht stehenden Ver¬
änderungen des Wahlgesetzes werden sich wohl nur auf eine mäßige Herab¬
setzung des Census beschränken.

Es erscheint erklärlich, wenn man die Holländer häufig eine erloschene
Nation nennt; aber das Feuer ist noch nicht ganz erstorben, es wird zuweilen
wieder angefacht und hin und wieder zeugen einzelne Erscheinungen, daß eine,
wenn auch schwache Wendung zum Besseren eingetreten ist. Mindestens die
Einsicht in die Mängel des gegenwärtigen Zustandes ist im Zunehmen be¬
griffen. Man sieht ein, daß unser Dasein etwas Greisenhaftes hat und daß
die Erinnerung an frühere ruhmvolle Tage zu unserer jetzigen Schwäche und
Furcht vor jugendkräftigen Nachbarn in traurigem Gegensatz steht, daß ein
sint ut sunt unmöglich geworden ist und wir nur zwischen Emannung und
langsamem aber sicherem Untergang zu wählen haben.




Ueisebildcr aus Galizien.
2. Krakau.

Ueber den Thürmen Krakaus war ein trüber mehliger Novembertag auf¬
gegangen, der mich die Kirchen und Palläste an denen ich vorüberwanderte
nur undeutlich und wie durch einen Vorhang sehen ließ. Es gibt Land¬
schaften und Orte, zu denen nothwendig ein strahlender Morgen gehört und


Grenzboten I. 1870. 14
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123087/111>, abgerufen am 26.06.2024.