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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. I. Band.

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Lehranstalten waren früher berühmt, -- jetzt fängt man an, unsere'Schulen
nach ausländischem Muster einzurichten. Die Volksschule ist durch das Gesetz
des Jahres 1837 verbessert und könnte ruhig einen Vergleich mit den preußi¬
schen Schulen aushalten, müßte sie nicht fortwährend mit der Schulversäum-
niß kämpfen. Im Monat November hat man einen Verein zur Steuerung
dieses Uebels errichtet, aber das einzige gründliche Mittel zur Heilung -- die
obligatorische Schulpflicht -- will man nicht anwenden. Man will den
Eltern die "Freiheit" nicht rauben, ihre Kinder zu vernachlässigen. Um dieser
"Freiheit" willen steht kein Volk des westlichen Europas auf so niedriger
Stufe der Civilisation, als die niedere Bevölkerung Hollands. Daß minde¬
stens 2S Procent der Herangewachsenen nicht lesen und schreiben können, ist
nicht einmal das Schlimmste. Blickt man in die ärmeren Stadtviertel und
beobachtet man die dort hausende Menschenclasse, so begegnet man überall
einer Verkommenheit, einem Schmutz, einer Unzucht und Rohheit, die ihres
Gleichen suchen. Unsere berüchtigten Kirmessen, die einzigen Volksfeste die
wir kennen, sind von Alters her Schauspiele der Entsittlichung und des
wüstesten Treibens. Dieses Volk hat einen tiefgewurzelten Haß gegen die
Besitzenden und Höhergestellten und findet Genuß darin, sich gegen jede
öffentliche Ordnung aufzulehnen. Entschließt man sich nicht, mit der allge¬
meinen Schulpflicht Ernst zu machen, so ist ein noch tieferes Sinken, eine
wirkliche sociale Gefahr unvermeidlich.

Aber auch um unsere besseren Classen wird es erst besser werden, wenn
wir die Früchte der neuerdings errichteten höheren Bürgerschulen ernten
können. Bisher gehörte zur Bildung nur, daß man französisch und vielleicht
auch englisch und deutsch sprechen konnte. Alle anderen Fächer waren unseren
jungen Leuten so ziemlich böhmische Dörfer. Daß unsere Herren Abgeord¬
neten wesentlich aus diesem Grunde einen höchst unklaren Begriff über aus¬
wärtige Zustände haben, ist darum nicht zu verwundern, wenn auch traurig genug.
Ebenso traurig aber ist es, daß im ganzen Reiche der Niederlande nur eine
höhere Töchterschule besteht, in der den Mädchen wirklich etwas Ordentliches
gelehrt wird. Diese Anstalt besteht hier in Haarlem. Es gibt außerdem eine
große Menge sogenannter Kostschulen, aber diese reichen höchstens für einen
Bildungsgrad hin, wie er im vorigen Jahrhundert genügte. In Amster¬
dam sollte eine Schule nach hiesigem Muster errichtet werden, aber nach
längerer Berathschlagung hat man den Plan aufgegeben. Wenn es so in
der großen und reichen Hauptstadt zugeht, wie soll es da auf dem flachen
Lande aussehen? Um die exceptionell günstigen Haarlemer Zustände des
Unterrichtswesens hat sich unser früherer Bürgermeister und jetziger Minister
Font große Verdienste erworben.

Mit der Frage der Volksbildung steht die Frage über das Wahlrecht in


Lehranstalten waren früher berühmt, — jetzt fängt man an, unsere'Schulen
nach ausländischem Muster einzurichten. Die Volksschule ist durch das Gesetz
des Jahres 1837 verbessert und könnte ruhig einen Vergleich mit den preußi¬
schen Schulen aushalten, müßte sie nicht fortwährend mit der Schulversäum-
niß kämpfen. Im Monat November hat man einen Verein zur Steuerung
dieses Uebels errichtet, aber das einzige gründliche Mittel zur Heilung — die
obligatorische Schulpflicht — will man nicht anwenden. Man will den
Eltern die „Freiheit" nicht rauben, ihre Kinder zu vernachlässigen. Um dieser
„Freiheit" willen steht kein Volk des westlichen Europas auf so niedriger
Stufe der Civilisation, als die niedere Bevölkerung Hollands. Daß minde¬
stens 2S Procent der Herangewachsenen nicht lesen und schreiben können, ist
nicht einmal das Schlimmste. Blickt man in die ärmeren Stadtviertel und
beobachtet man die dort hausende Menschenclasse, so begegnet man überall
einer Verkommenheit, einem Schmutz, einer Unzucht und Rohheit, die ihres
Gleichen suchen. Unsere berüchtigten Kirmessen, die einzigen Volksfeste die
wir kennen, sind von Alters her Schauspiele der Entsittlichung und des
wüstesten Treibens. Dieses Volk hat einen tiefgewurzelten Haß gegen die
Besitzenden und Höhergestellten und findet Genuß darin, sich gegen jede
öffentliche Ordnung aufzulehnen. Entschließt man sich nicht, mit der allge¬
meinen Schulpflicht Ernst zu machen, so ist ein noch tieferes Sinken, eine
wirkliche sociale Gefahr unvermeidlich.

Aber auch um unsere besseren Classen wird es erst besser werden, wenn
wir die Früchte der neuerdings errichteten höheren Bürgerschulen ernten
können. Bisher gehörte zur Bildung nur, daß man französisch und vielleicht
auch englisch und deutsch sprechen konnte. Alle anderen Fächer waren unseren
jungen Leuten so ziemlich böhmische Dörfer. Daß unsere Herren Abgeord¬
neten wesentlich aus diesem Grunde einen höchst unklaren Begriff über aus¬
wärtige Zustände haben, ist darum nicht zu verwundern, wenn auch traurig genug.
Ebenso traurig aber ist es, daß im ganzen Reiche der Niederlande nur eine
höhere Töchterschule besteht, in der den Mädchen wirklich etwas Ordentliches
gelehrt wird. Diese Anstalt besteht hier in Haarlem. Es gibt außerdem eine
große Menge sogenannter Kostschulen, aber diese reichen höchstens für einen
Bildungsgrad hin, wie er im vorigen Jahrhundert genügte. In Amster¬
dam sollte eine Schule nach hiesigem Muster errichtet werden, aber nach
längerer Berathschlagung hat man den Plan aufgegeben. Wenn es so in
der großen und reichen Hauptstadt zugeht, wie soll es da auf dem flachen
Lande aussehen? Um die exceptionell günstigen Haarlemer Zustände des
Unterrichtswesens hat sich unser früherer Bürgermeister und jetziger Minister
Font große Verdienste erworben.

Mit der Frage der Volksbildung steht die Frage über das Wahlrecht in


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123087/110>, abgerufen am 26.06.2024.