Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

nicht mit leichtsinniger Großthuerei sagen, wir Holländer könnten gemächlich
noch höhere Steuern zahlen, als die gegenwärtigen.

Des Pudels Kern ist und bleibt die leidige Preußenfurcht. Liest man die
Betrachtungen, die durch verschiedene Kammermitglieder über die preußischen
Annexionsgelüste auch in dieser Session angestellt wurden, so kann man sich
eines mitleidigen Lächelns nicht erwehren. Ein Herr Hoffmans machte den
deutschen Gelehrten das Compliment, daß jedenfalls hundert Professoren in
Deutschland zu finden seien, die sofort beweisen würden, daß die Holländer
"eigentlich und uneigentlich" zu den Deutschen gehörten. Den Meisten un¬
serer Volksvertreter fehlen eben alle gesunden Begriffe über deutsche Zustände;
sie stehen auf einem zu beschränkten Standpunkte, um die höheren Interessen
einer Nation auch nur ahnen zu können. Eine gewisse Besserung der Be¬
griffe ist übrigens doch während der letzten Session in dieser Beziehung zu
bemerken gewesen. Der Abgeordnete van Houten hat die Furcht vor Preußen
öffentlich als grundlos bezeichnet, wozu bisher noch Niemand den Muth oder
die Einsicht besaß.

Wie in der Militärfrage sehr viel geredet und sehr wenig gethan wurde,
so ist es auch mit anderen Dingen gegangen.'. Es herrscht hier eine Er¬
schlaffung, ein Jndifferentismus des öffentlichen Geistes, der sich vergeblich
hinter patriotischen Redensarten zu verbergen sucht. Man setzt seinen Stolz
darein, das freieste Volk zu heißen -- und glaubt diesen Freiheitssinn zu be¬
thätigen, indem man Alles gehen läßt, so wie es eben geht. Ein Volk, das
von oben herab nicht in Zucht gehalten sein will, muß sich selbst Zucht auf¬
erlegen, muß aus freiem Antrieb thun, wozu Andere gezwungen werden müssen.
Fahrlässigkeit und Schläfrigkeit nehmen in Holland aber fortwährend zu.
Jeder will mitberathen und beschließen, aber handeln und dem Gemeinwohl
Opfer bringen, wollen die Wenigsien. Fast alle größere Unternehmungen
Wurden und werden hier zu Lande durch Ausländer und Fremde ausgeführt.
Unsere Eisenbahnen, Canäle, Dampferlinien sind gegenwärtig nur noch aus¬
nahmsweise holländische Privatunternehmungen.

Im Spätsommer d. I. gab ein Capitän Jansen den Anstoß zu einer
allgemeinen Agitation für directe Dampsschifffahrtsvervindung mit Amerika;
das Resultat war, daß man sich in die kleinlichsten Streitigkeiten über locale
Interessen u. s. w. verwickelte und Daß die solide Gesellschaft das nöthige
Capital von 5 Millionen Gulden für ihr Unternehmen nicht zusammenbringen
konnte; und das geschieht in dem reichen Holland, das sich so gern rühmt,
seine Capitalien allen Staaten der Welt zu leihen! Aehnliche Beispiele sind
in Menge aufzuzählen. Die alte Thatkraft ist verschwunden, das Volk, das
früher an der Spitze der civilisuten Völker stand, ist jetzt hinter seiner Zeit
zurückgeblieben und auf seinen Lorbeeren eingeschlafen. Die holländischen


nicht mit leichtsinniger Großthuerei sagen, wir Holländer könnten gemächlich
noch höhere Steuern zahlen, als die gegenwärtigen.

Des Pudels Kern ist und bleibt die leidige Preußenfurcht. Liest man die
Betrachtungen, die durch verschiedene Kammermitglieder über die preußischen
Annexionsgelüste auch in dieser Session angestellt wurden, so kann man sich
eines mitleidigen Lächelns nicht erwehren. Ein Herr Hoffmans machte den
deutschen Gelehrten das Compliment, daß jedenfalls hundert Professoren in
Deutschland zu finden seien, die sofort beweisen würden, daß die Holländer
„eigentlich und uneigentlich" zu den Deutschen gehörten. Den Meisten un¬
serer Volksvertreter fehlen eben alle gesunden Begriffe über deutsche Zustände;
sie stehen auf einem zu beschränkten Standpunkte, um die höheren Interessen
einer Nation auch nur ahnen zu können. Eine gewisse Besserung der Be¬
griffe ist übrigens doch während der letzten Session in dieser Beziehung zu
bemerken gewesen. Der Abgeordnete van Houten hat die Furcht vor Preußen
öffentlich als grundlos bezeichnet, wozu bisher noch Niemand den Muth oder
die Einsicht besaß.

Wie in der Militärfrage sehr viel geredet und sehr wenig gethan wurde,
so ist es auch mit anderen Dingen gegangen.'. Es herrscht hier eine Er¬
schlaffung, ein Jndifferentismus des öffentlichen Geistes, der sich vergeblich
hinter patriotischen Redensarten zu verbergen sucht. Man setzt seinen Stolz
darein, das freieste Volk zu heißen — und glaubt diesen Freiheitssinn zu be¬
thätigen, indem man Alles gehen läßt, so wie es eben geht. Ein Volk, das
von oben herab nicht in Zucht gehalten sein will, muß sich selbst Zucht auf¬
erlegen, muß aus freiem Antrieb thun, wozu Andere gezwungen werden müssen.
Fahrlässigkeit und Schläfrigkeit nehmen in Holland aber fortwährend zu.
Jeder will mitberathen und beschließen, aber handeln und dem Gemeinwohl
Opfer bringen, wollen die Wenigsien. Fast alle größere Unternehmungen
Wurden und werden hier zu Lande durch Ausländer und Fremde ausgeführt.
Unsere Eisenbahnen, Canäle, Dampferlinien sind gegenwärtig nur noch aus¬
nahmsweise holländische Privatunternehmungen.

Im Spätsommer d. I. gab ein Capitän Jansen den Anstoß zu einer
allgemeinen Agitation für directe Dampsschifffahrtsvervindung mit Amerika;
das Resultat war, daß man sich in die kleinlichsten Streitigkeiten über locale
Interessen u. s. w. verwickelte und Daß die solide Gesellschaft das nöthige
Capital von 5 Millionen Gulden für ihr Unternehmen nicht zusammenbringen
konnte; und das geschieht in dem reichen Holland, das sich so gern rühmt,
seine Capitalien allen Staaten der Welt zu leihen! Aehnliche Beispiele sind
in Menge aufzuzählen. Die alte Thatkraft ist verschwunden, das Volk, das
früher an der Spitze der civilisuten Völker stand, ist jetzt hinter seiner Zeit
zurückgeblieben und auf seinen Lorbeeren eingeschlafen. Die holländischen


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0109" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/123197"/>
          <p xml:id="ID_295" prev="#ID_294"> nicht mit leichtsinniger Großthuerei sagen, wir Holländer könnten gemächlich<lb/>
noch höhere Steuern zahlen, als die gegenwärtigen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_296"> Des Pudels Kern ist und bleibt die leidige Preußenfurcht. Liest man die<lb/>
Betrachtungen, die durch verschiedene Kammermitglieder über die preußischen<lb/>
Annexionsgelüste auch in dieser Session angestellt wurden, so kann man sich<lb/>
eines mitleidigen Lächelns nicht erwehren. Ein Herr Hoffmans machte den<lb/>
deutschen Gelehrten das Compliment, daß jedenfalls hundert Professoren in<lb/>
Deutschland zu finden seien, die sofort beweisen würden, daß die Holländer<lb/>
&#x201E;eigentlich und uneigentlich" zu den Deutschen gehörten. Den Meisten un¬<lb/>
serer Volksvertreter fehlen eben alle gesunden Begriffe über deutsche Zustände;<lb/>
sie stehen auf einem zu beschränkten Standpunkte, um die höheren Interessen<lb/>
einer Nation auch nur ahnen zu können. Eine gewisse Besserung der Be¬<lb/>
griffe ist übrigens doch während der letzten Session in dieser Beziehung zu<lb/>
bemerken gewesen. Der Abgeordnete van Houten hat die Furcht vor Preußen<lb/>
öffentlich als grundlos bezeichnet, wozu bisher noch Niemand den Muth oder<lb/>
die Einsicht besaß.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_297"> Wie in der Militärfrage sehr viel geredet und sehr wenig gethan wurde,<lb/>
so ist es auch mit anderen Dingen gegangen.'. Es herrscht hier eine Er¬<lb/>
schlaffung, ein Jndifferentismus des öffentlichen Geistes, der sich vergeblich<lb/>
hinter patriotischen Redensarten zu verbergen sucht. Man setzt seinen Stolz<lb/>
darein, das freieste Volk zu heißen &#x2014; und glaubt diesen Freiheitssinn zu be¬<lb/>
thätigen, indem man Alles gehen läßt, so wie es eben geht. Ein Volk, das<lb/>
von oben herab nicht in Zucht gehalten sein will, muß sich selbst Zucht auf¬<lb/>
erlegen, muß aus freiem Antrieb thun, wozu Andere gezwungen werden müssen.<lb/>
Fahrlässigkeit und Schläfrigkeit nehmen in Holland aber fortwährend zu.<lb/>
Jeder will mitberathen und beschließen, aber handeln und dem Gemeinwohl<lb/>
Opfer bringen, wollen die Wenigsien. Fast alle größere Unternehmungen<lb/>
Wurden und werden hier zu Lande durch Ausländer und Fremde ausgeführt.<lb/>
Unsere Eisenbahnen, Canäle, Dampferlinien sind gegenwärtig nur noch aus¬<lb/>
nahmsweise holländische Privatunternehmungen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_298" next="#ID_299"> Im Spätsommer d. I. gab ein Capitän Jansen den Anstoß zu einer<lb/>
allgemeinen Agitation für directe Dampsschifffahrtsvervindung mit Amerika;<lb/>
das Resultat war, daß man sich in die kleinlichsten Streitigkeiten über locale<lb/>
Interessen u. s. w. verwickelte und Daß die solide Gesellschaft das nöthige<lb/>
Capital von 5 Millionen Gulden für ihr Unternehmen nicht zusammenbringen<lb/>
konnte; und das geschieht in dem reichen Holland, das sich so gern rühmt,<lb/>
seine Capitalien allen Staaten der Welt zu leihen! Aehnliche Beispiele sind<lb/>
in Menge aufzuzählen. Die alte Thatkraft ist verschwunden, das Volk, das<lb/>
früher an der Spitze der civilisuten Völker stand, ist jetzt hinter seiner Zeit<lb/>
zurückgeblieben und auf seinen Lorbeeren eingeschlafen.  Die holländischen</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0109] nicht mit leichtsinniger Großthuerei sagen, wir Holländer könnten gemächlich noch höhere Steuern zahlen, als die gegenwärtigen. Des Pudels Kern ist und bleibt die leidige Preußenfurcht. Liest man die Betrachtungen, die durch verschiedene Kammermitglieder über die preußischen Annexionsgelüste auch in dieser Session angestellt wurden, so kann man sich eines mitleidigen Lächelns nicht erwehren. Ein Herr Hoffmans machte den deutschen Gelehrten das Compliment, daß jedenfalls hundert Professoren in Deutschland zu finden seien, die sofort beweisen würden, daß die Holländer „eigentlich und uneigentlich" zu den Deutschen gehörten. Den Meisten un¬ serer Volksvertreter fehlen eben alle gesunden Begriffe über deutsche Zustände; sie stehen auf einem zu beschränkten Standpunkte, um die höheren Interessen einer Nation auch nur ahnen zu können. Eine gewisse Besserung der Be¬ griffe ist übrigens doch während der letzten Session in dieser Beziehung zu bemerken gewesen. Der Abgeordnete van Houten hat die Furcht vor Preußen öffentlich als grundlos bezeichnet, wozu bisher noch Niemand den Muth oder die Einsicht besaß. Wie in der Militärfrage sehr viel geredet und sehr wenig gethan wurde, so ist es auch mit anderen Dingen gegangen.'. Es herrscht hier eine Er¬ schlaffung, ein Jndifferentismus des öffentlichen Geistes, der sich vergeblich hinter patriotischen Redensarten zu verbergen sucht. Man setzt seinen Stolz darein, das freieste Volk zu heißen — und glaubt diesen Freiheitssinn zu be¬ thätigen, indem man Alles gehen läßt, so wie es eben geht. Ein Volk, das von oben herab nicht in Zucht gehalten sein will, muß sich selbst Zucht auf¬ erlegen, muß aus freiem Antrieb thun, wozu Andere gezwungen werden müssen. Fahrlässigkeit und Schläfrigkeit nehmen in Holland aber fortwährend zu. Jeder will mitberathen und beschließen, aber handeln und dem Gemeinwohl Opfer bringen, wollen die Wenigsien. Fast alle größere Unternehmungen Wurden und werden hier zu Lande durch Ausländer und Fremde ausgeführt. Unsere Eisenbahnen, Canäle, Dampferlinien sind gegenwärtig nur noch aus¬ nahmsweise holländische Privatunternehmungen. Im Spätsommer d. I. gab ein Capitän Jansen den Anstoß zu einer allgemeinen Agitation für directe Dampsschifffahrtsvervindung mit Amerika; das Resultat war, daß man sich in die kleinlichsten Streitigkeiten über locale Interessen u. s. w. verwickelte und Daß die solide Gesellschaft das nöthige Capital von 5 Millionen Gulden für ihr Unternehmen nicht zusammenbringen konnte; und das geschieht in dem reichen Holland, das sich so gern rühmt, seine Capitalien allen Staaten der Welt zu leihen! Aehnliche Beispiele sind in Menge aufzuzählen. Die alte Thatkraft ist verschwunden, das Volk, das früher an der Spitze der civilisuten Völker stand, ist jetzt hinter seiner Zeit zurückgeblieben und auf seinen Lorbeeren eingeschlafen. Die holländischen

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123087
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123087/109
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123087/109>, abgerufen am 26.06.2024.