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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. I. Band.

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Einfluß der Kirchen auf das Weltleben wird immer fühlbarer. Neben den
inneren Ursachen dieses Mangels, die im Bisherigen zum Theil erörtert
wurden, findet Herr T. auch äußere Bedingungen dieser Erscheinung und er.
kennt als solche zunächst den Bildungsgang unserer Geistlichen. Diese wer¬
den in einer künstlichen Atmosphäre wie Treibhauspflanzen auferzogen. Der
theologische Unterricht gewährt ihnen zu wenig freie geistige Bewegung,
nöthigt sie zu wenig zum eigenen selbständigen Nachdenken. Die Theologie
selbst muß sich mehr mit den anderen Gebieten des Wissens durchdringen
und es bedarf gerade in unserer auch auf religiösem Gebiete so erregten Zeit
nur der Aufhebung der Schranken, mit welchen die geistliche Wissenschaft
von der weltlichen künstlich abgesperrt wird, um das für jene noch viel mehr
als für die anderen Wissenschaften unentbehrliche Reizmittel, die frische be¬
lebende Luft der Freiheit zu gewinnen.

Soll daher die Theologie wieder jene würdige Stellung einnehmen, die
sie einst zur Blüthezeit des Humanismus und der Reformation besessen, so
stelle sie sich wieder auf den Boden der freien schlagfertigen Discussion.
Und hiermit beginne man schon auf den Academien und Universitäten. Hier
sollten regelmäßige Disputationen zwischen den Schülern der verschiedenen
Facultäten unter der Leitung der Lehrer stattfinden. Eine Menge von Ver¬
legenheiten würde da allerdings den Theologen bereitet; aber es käme dann
auch an den Tag, wo es ihnen fehlt, um den anderen Wissenschaften oder
dem Leben gegenüber Stellung zu nehmen. Auch die Professoren selbst
müßten von Zeit zu Zeit solche Disputationen halten, theils zur Anregung
und Förderung der Schüler, theils um ihre Lehren und ihren Unterricht einer
Prüfung über dessen Reichhaltigkeit zu unterziehen. So manche falsche Lehre,
welche heutzutage in der Regel erst spät, erst in ihren Resultaten als falsch er¬
kannt zu werden pflegt, würde auf diese Weise weit schneller zu Tage kom¬
men und könnte mit mehr Erfolg und zur rechten Zeit bekämpft werden.

Jetzt wo die Kirche vom Staate noch nicht getrennt ist, müßte der
Staat, um diese Ablösung erst vorzubereiten, jeder kirchlichen Richtung eine
Vertretung an seinen Anstalten gewähren. Er selbst wäre in unseren
kleinen Demokratien natürlich weder reich noch unparteiisch genug, hier nach
allen Richtungen hin fürzusorgen. Indem er dies vielmehr den Kirchen über¬
ließe, würden seine Anstalten, ohne ihn selbst etwas zu kosten, zu einem
reicheren Leben entwickelt, während es im eigensten Interesse der Kirchen läge,
ihre besten Männer zu solchen Stellen zu berufen und sie entsprechend zu
besolden. Eine solche Einrichtung entspräche ganz besonders unsern demo¬
kratischen Institutionen. Die Bürger selbst würden zur Leitung des höheren
Unterrichts in ihrem eigenen Interesse herangezogen und eine der hauptsäch¬
lichsten Einwendungen gegen die Trennung von Kirche und Staat, daß man-


Einfluß der Kirchen auf das Weltleben wird immer fühlbarer. Neben den
inneren Ursachen dieses Mangels, die im Bisherigen zum Theil erörtert
wurden, findet Herr T. auch äußere Bedingungen dieser Erscheinung und er.
kennt als solche zunächst den Bildungsgang unserer Geistlichen. Diese wer¬
den in einer künstlichen Atmosphäre wie Treibhauspflanzen auferzogen. Der
theologische Unterricht gewährt ihnen zu wenig freie geistige Bewegung,
nöthigt sie zu wenig zum eigenen selbständigen Nachdenken. Die Theologie
selbst muß sich mehr mit den anderen Gebieten des Wissens durchdringen
und es bedarf gerade in unserer auch auf religiösem Gebiete so erregten Zeit
nur der Aufhebung der Schranken, mit welchen die geistliche Wissenschaft
von der weltlichen künstlich abgesperrt wird, um das für jene noch viel mehr
als für die anderen Wissenschaften unentbehrliche Reizmittel, die frische be¬
lebende Luft der Freiheit zu gewinnen.

Soll daher die Theologie wieder jene würdige Stellung einnehmen, die
sie einst zur Blüthezeit des Humanismus und der Reformation besessen, so
stelle sie sich wieder auf den Boden der freien schlagfertigen Discussion.
Und hiermit beginne man schon auf den Academien und Universitäten. Hier
sollten regelmäßige Disputationen zwischen den Schülern der verschiedenen
Facultäten unter der Leitung der Lehrer stattfinden. Eine Menge von Ver¬
legenheiten würde da allerdings den Theologen bereitet; aber es käme dann
auch an den Tag, wo es ihnen fehlt, um den anderen Wissenschaften oder
dem Leben gegenüber Stellung zu nehmen. Auch die Professoren selbst
müßten von Zeit zu Zeit solche Disputationen halten, theils zur Anregung
und Förderung der Schüler, theils um ihre Lehren und ihren Unterricht einer
Prüfung über dessen Reichhaltigkeit zu unterziehen. So manche falsche Lehre,
welche heutzutage in der Regel erst spät, erst in ihren Resultaten als falsch er¬
kannt zu werden pflegt, würde auf diese Weise weit schneller zu Tage kom¬
men und könnte mit mehr Erfolg und zur rechten Zeit bekämpft werden.

Jetzt wo die Kirche vom Staate noch nicht getrennt ist, müßte der
Staat, um diese Ablösung erst vorzubereiten, jeder kirchlichen Richtung eine
Vertretung an seinen Anstalten gewähren. Er selbst wäre in unseren
kleinen Demokratien natürlich weder reich noch unparteiisch genug, hier nach
allen Richtungen hin fürzusorgen. Indem er dies vielmehr den Kirchen über¬
ließe, würden seine Anstalten, ohne ihn selbst etwas zu kosten, zu einem
reicheren Leben entwickelt, während es im eigensten Interesse der Kirchen läge,
ihre besten Männer zu solchen Stellen zu berufen und sie entsprechend zu
besolden. Eine solche Einrichtung entspräche ganz besonders unsern demo¬
kratischen Institutionen. Die Bürger selbst würden zur Leitung des höheren
Unterrichts in ihrem eigenen Interesse herangezogen und eine der hauptsäch¬
lichsten Einwendungen gegen die Trennung von Kirche und Staat, daß man-


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[0104] Einfluß der Kirchen auf das Weltleben wird immer fühlbarer. Neben den inneren Ursachen dieses Mangels, die im Bisherigen zum Theil erörtert wurden, findet Herr T. auch äußere Bedingungen dieser Erscheinung und er. kennt als solche zunächst den Bildungsgang unserer Geistlichen. Diese wer¬ den in einer künstlichen Atmosphäre wie Treibhauspflanzen auferzogen. Der theologische Unterricht gewährt ihnen zu wenig freie geistige Bewegung, nöthigt sie zu wenig zum eigenen selbständigen Nachdenken. Die Theologie selbst muß sich mehr mit den anderen Gebieten des Wissens durchdringen und es bedarf gerade in unserer auch auf religiösem Gebiete so erregten Zeit nur der Aufhebung der Schranken, mit welchen die geistliche Wissenschaft von der weltlichen künstlich abgesperrt wird, um das für jene noch viel mehr als für die anderen Wissenschaften unentbehrliche Reizmittel, die frische be¬ lebende Luft der Freiheit zu gewinnen. Soll daher die Theologie wieder jene würdige Stellung einnehmen, die sie einst zur Blüthezeit des Humanismus und der Reformation besessen, so stelle sie sich wieder auf den Boden der freien schlagfertigen Discussion. Und hiermit beginne man schon auf den Academien und Universitäten. Hier sollten regelmäßige Disputationen zwischen den Schülern der verschiedenen Facultäten unter der Leitung der Lehrer stattfinden. Eine Menge von Ver¬ legenheiten würde da allerdings den Theologen bereitet; aber es käme dann auch an den Tag, wo es ihnen fehlt, um den anderen Wissenschaften oder dem Leben gegenüber Stellung zu nehmen. Auch die Professoren selbst müßten von Zeit zu Zeit solche Disputationen halten, theils zur Anregung und Förderung der Schüler, theils um ihre Lehren und ihren Unterricht einer Prüfung über dessen Reichhaltigkeit zu unterziehen. So manche falsche Lehre, welche heutzutage in der Regel erst spät, erst in ihren Resultaten als falsch er¬ kannt zu werden pflegt, würde auf diese Weise weit schneller zu Tage kom¬ men und könnte mit mehr Erfolg und zur rechten Zeit bekämpft werden. Jetzt wo die Kirche vom Staate noch nicht getrennt ist, müßte der Staat, um diese Ablösung erst vorzubereiten, jeder kirchlichen Richtung eine Vertretung an seinen Anstalten gewähren. Er selbst wäre in unseren kleinen Demokratien natürlich weder reich noch unparteiisch genug, hier nach allen Richtungen hin fürzusorgen. Indem er dies vielmehr den Kirchen über¬ ließe, würden seine Anstalten, ohne ihn selbst etwas zu kosten, zu einem reicheren Leben entwickelt, während es im eigensten Interesse der Kirchen läge, ihre besten Männer zu solchen Stellen zu berufen und sie entsprechend zu besolden. Eine solche Einrichtung entspräche ganz besonders unsern demo¬ kratischen Institutionen. Die Bürger selbst würden zur Leitung des höheren Unterrichts in ihrem eigenen Interesse herangezogen und eine der hauptsäch¬ lichsten Einwendungen gegen die Trennung von Kirche und Staat, daß man-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123087/104>, abgerufen am 26.06.2024.