Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

eip der Freiheit verleugnet: daher jene Einseitigkeiten und Auswüchse. Sie
sind außerhalb des allgemeinen Fortschrittes zu stehen gekommen und die in
der Natur der Dinge liegende Wechselwirkung zwischen Staat und Kirche,
Welt und Religion machte ihre Rechte dadurch geltend, daß der staatliche
Liberalismus häusig genöthigt wurde, die Religion, welche allein ihn hätte
zur wahren Freiheit führen können, als seine Feindin zu behandeln. So
sehen wir die "Welt" als die Vertreterin der Freiheit, die kirchliche Religion
als die Vertreterin der Unfreiheit dastehen. Soll diesem verkehrten Zu¬
stande abgeholfen werden, so kann dies nur dadurch geschehen, daß die Re¬
ligion wieder auf ihren ursprünglichen Boden, auf den Boden der Freiheit
zurückgestellt werde. Der Kampf der Meinungen, in welchem hier die mensch¬
liche, dort die göttliche Seite der religiösen Wahrheit verfochten wird, kann
nur dann gesunde Früchte tragen, wenn er auf dem richtigen Boden ge-
kämpft wird: mit vollständigster Freiheit für beide Theile. Jeder Theil muß
auf seine eigensten Hilfsmittel beschränkt bleiben, diese aber in ihrem vollen
Umfange gebrauchen dürfen. Die Existenzbedingung sür beide Theile muß
das reine Streben nach Wahrheit sein. Angesichts der thatsächlichen Wirk¬
lichkeit werden dann die theoretischen Uebertreibungen von selbst fallen und
bei jedem Theile wird das Bedürfniß sich melden, beim andern das ihm
selbst mangelnde Gute anzuerkennen und für sich selbst nutzbar zu machen.
Dies aber ist nur unter der Bedingung möglich, daß beide Seiten der
Wahrheit sich ganz frei nicht nur theoretisch, sondern auch in praktischer Ge¬
staltung entwickeln können, also frei von den Fesseln des Staates. Es darf
nicht die Betonung der einen Seite aus Kosten der andern geschehen. Beide
müssen sich vielmehr gegenseitig durchdringen lernen. Wenn die "Welt" sich
so oft nur noch durch gewisse Schattirungen von den "Gläubigen" unter¬
scheidet, wenn sie, ohne das Evangelium anzunehmen, sich doch von demselben
in sichtbarer Weise hat durchdringen lassen, wenn man in derselben die
Ehrbarkeit, eine verhältnißmäßtge Reinheit und überhaupt viele Wirkungen
des Christenthums findet, so muß offenbar die Rolle des Christenthums gegen¬
über der Welt sich ändern: statt sich zu ihr in Gegensatz zu stellen, muß es
sie vielmehr dadurch zu gewinnen suchen, daß es sich ihr nähert, -- was
freilich schwerer ist, als sich abzusondern; denn es erfordert tieferes Selbst¬
bewußtsein, eine größere Selbständigkeit. Aber der Zweck des Christenthums
ist nun einmal nicht, das Menschenleben einzuschränken und einzuengen, son¬
dern dasselbe allseitig zu entwickeln.

Die Aufgabe der. harmonischen Durchdringung der göttlichen und der
menschlichen Seite der religiösen Wahrheit tritt durch deren feindliches sich
einander Gegenüberstellen nur immer dringlicher hervor und der Mangel an


Grenzboten I. 1870. 13

eip der Freiheit verleugnet: daher jene Einseitigkeiten und Auswüchse. Sie
sind außerhalb des allgemeinen Fortschrittes zu stehen gekommen und die in
der Natur der Dinge liegende Wechselwirkung zwischen Staat und Kirche,
Welt und Religion machte ihre Rechte dadurch geltend, daß der staatliche
Liberalismus häusig genöthigt wurde, die Religion, welche allein ihn hätte
zur wahren Freiheit führen können, als seine Feindin zu behandeln. So
sehen wir die „Welt" als die Vertreterin der Freiheit, die kirchliche Religion
als die Vertreterin der Unfreiheit dastehen. Soll diesem verkehrten Zu¬
stande abgeholfen werden, so kann dies nur dadurch geschehen, daß die Re¬
ligion wieder auf ihren ursprünglichen Boden, auf den Boden der Freiheit
zurückgestellt werde. Der Kampf der Meinungen, in welchem hier die mensch¬
liche, dort die göttliche Seite der religiösen Wahrheit verfochten wird, kann
nur dann gesunde Früchte tragen, wenn er auf dem richtigen Boden ge-
kämpft wird: mit vollständigster Freiheit für beide Theile. Jeder Theil muß
auf seine eigensten Hilfsmittel beschränkt bleiben, diese aber in ihrem vollen
Umfange gebrauchen dürfen. Die Existenzbedingung sür beide Theile muß
das reine Streben nach Wahrheit sein. Angesichts der thatsächlichen Wirk¬
lichkeit werden dann die theoretischen Uebertreibungen von selbst fallen und
bei jedem Theile wird das Bedürfniß sich melden, beim andern das ihm
selbst mangelnde Gute anzuerkennen und für sich selbst nutzbar zu machen.
Dies aber ist nur unter der Bedingung möglich, daß beide Seiten der
Wahrheit sich ganz frei nicht nur theoretisch, sondern auch in praktischer Ge¬
staltung entwickeln können, also frei von den Fesseln des Staates. Es darf
nicht die Betonung der einen Seite aus Kosten der andern geschehen. Beide
müssen sich vielmehr gegenseitig durchdringen lernen. Wenn die „Welt" sich
so oft nur noch durch gewisse Schattirungen von den „Gläubigen" unter¬
scheidet, wenn sie, ohne das Evangelium anzunehmen, sich doch von demselben
in sichtbarer Weise hat durchdringen lassen, wenn man in derselben die
Ehrbarkeit, eine verhältnißmäßtge Reinheit und überhaupt viele Wirkungen
des Christenthums findet, so muß offenbar die Rolle des Christenthums gegen¬
über der Welt sich ändern: statt sich zu ihr in Gegensatz zu stellen, muß es
sie vielmehr dadurch zu gewinnen suchen, daß es sich ihr nähert, — was
freilich schwerer ist, als sich abzusondern; denn es erfordert tieferes Selbst¬
bewußtsein, eine größere Selbständigkeit. Aber der Zweck des Christenthums
ist nun einmal nicht, das Menschenleben einzuschränken und einzuengen, son¬
dern dasselbe allseitig zu entwickeln.

Die Aufgabe der. harmonischen Durchdringung der göttlichen und der
menschlichen Seite der religiösen Wahrheit tritt durch deren feindliches sich
einander Gegenüberstellen nur immer dringlicher hervor und der Mangel an


Grenzboten I. 1870. 13
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0103" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/123191"/>
          <p xml:id="ID_278" prev="#ID_277"> eip der Freiheit verleugnet: daher jene Einseitigkeiten und Auswüchse. Sie<lb/>
sind außerhalb des allgemeinen Fortschrittes zu stehen gekommen und die in<lb/>
der Natur der Dinge liegende Wechselwirkung zwischen Staat und Kirche,<lb/>
Welt und Religion machte ihre Rechte dadurch geltend, daß der staatliche<lb/>
Liberalismus häusig genöthigt wurde, die Religion, welche allein ihn hätte<lb/>
zur wahren Freiheit führen können, als seine Feindin zu behandeln. So<lb/>
sehen wir die &#x201E;Welt" als die Vertreterin der Freiheit, die kirchliche Religion<lb/>
als die Vertreterin der Unfreiheit dastehen. Soll diesem verkehrten Zu¬<lb/>
stande abgeholfen werden, so kann dies nur dadurch geschehen, daß die Re¬<lb/>
ligion wieder auf ihren ursprünglichen Boden, auf den Boden der Freiheit<lb/>
zurückgestellt werde. Der Kampf der Meinungen, in welchem hier die mensch¬<lb/>
liche, dort die göttliche Seite der religiösen Wahrheit verfochten wird, kann<lb/>
nur dann gesunde Früchte tragen, wenn er auf dem richtigen Boden ge-<lb/>
kämpft wird: mit vollständigster Freiheit für beide Theile. Jeder Theil muß<lb/>
auf seine eigensten Hilfsmittel beschränkt bleiben, diese aber in ihrem vollen<lb/>
Umfange gebrauchen dürfen. Die Existenzbedingung sür beide Theile muß<lb/>
das reine Streben nach Wahrheit sein. Angesichts der thatsächlichen Wirk¬<lb/>
lichkeit werden dann die theoretischen Uebertreibungen von selbst fallen und<lb/>
bei jedem Theile wird das Bedürfniß sich melden, beim andern das ihm<lb/>
selbst mangelnde Gute anzuerkennen und für sich selbst nutzbar zu machen.<lb/>
Dies aber ist nur unter der Bedingung möglich, daß beide Seiten der<lb/>
Wahrheit sich ganz frei nicht nur theoretisch, sondern auch in praktischer Ge¬<lb/>
staltung entwickeln können, also frei von den Fesseln des Staates. Es darf<lb/>
nicht die Betonung der einen Seite aus Kosten der andern geschehen. Beide<lb/>
müssen sich vielmehr gegenseitig durchdringen lernen. Wenn die &#x201E;Welt" sich<lb/>
so oft nur noch durch gewisse Schattirungen von den &#x201E;Gläubigen" unter¬<lb/>
scheidet, wenn sie, ohne das Evangelium anzunehmen, sich doch von demselben<lb/>
in sichtbarer Weise hat durchdringen lassen, wenn man in derselben die<lb/>
Ehrbarkeit, eine verhältnißmäßtge Reinheit und überhaupt viele Wirkungen<lb/>
des Christenthums findet, so muß offenbar die Rolle des Christenthums gegen¬<lb/>
über der Welt sich ändern: statt sich zu ihr in Gegensatz zu stellen, muß es<lb/>
sie vielmehr dadurch zu gewinnen suchen, daß es sich ihr nähert, &#x2014; was<lb/>
freilich schwerer ist, als sich abzusondern; denn es erfordert tieferes Selbst¬<lb/>
bewußtsein, eine größere Selbständigkeit. Aber der Zweck des Christenthums<lb/>
ist nun einmal nicht, das Menschenleben einzuschränken und einzuengen, son¬<lb/>
dern dasselbe allseitig zu entwickeln.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_279" next="#ID_280"> Die Aufgabe der. harmonischen Durchdringung der göttlichen und der<lb/>
menschlichen Seite der religiösen Wahrheit tritt durch deren feindliches sich<lb/>
einander Gegenüberstellen nur immer dringlicher hervor und der Mangel an</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten I. 1870. 13</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0103] eip der Freiheit verleugnet: daher jene Einseitigkeiten und Auswüchse. Sie sind außerhalb des allgemeinen Fortschrittes zu stehen gekommen und die in der Natur der Dinge liegende Wechselwirkung zwischen Staat und Kirche, Welt und Religion machte ihre Rechte dadurch geltend, daß der staatliche Liberalismus häusig genöthigt wurde, die Religion, welche allein ihn hätte zur wahren Freiheit führen können, als seine Feindin zu behandeln. So sehen wir die „Welt" als die Vertreterin der Freiheit, die kirchliche Religion als die Vertreterin der Unfreiheit dastehen. Soll diesem verkehrten Zu¬ stande abgeholfen werden, so kann dies nur dadurch geschehen, daß die Re¬ ligion wieder auf ihren ursprünglichen Boden, auf den Boden der Freiheit zurückgestellt werde. Der Kampf der Meinungen, in welchem hier die mensch¬ liche, dort die göttliche Seite der religiösen Wahrheit verfochten wird, kann nur dann gesunde Früchte tragen, wenn er auf dem richtigen Boden ge- kämpft wird: mit vollständigster Freiheit für beide Theile. Jeder Theil muß auf seine eigensten Hilfsmittel beschränkt bleiben, diese aber in ihrem vollen Umfange gebrauchen dürfen. Die Existenzbedingung sür beide Theile muß das reine Streben nach Wahrheit sein. Angesichts der thatsächlichen Wirk¬ lichkeit werden dann die theoretischen Uebertreibungen von selbst fallen und bei jedem Theile wird das Bedürfniß sich melden, beim andern das ihm selbst mangelnde Gute anzuerkennen und für sich selbst nutzbar zu machen. Dies aber ist nur unter der Bedingung möglich, daß beide Seiten der Wahrheit sich ganz frei nicht nur theoretisch, sondern auch in praktischer Ge¬ staltung entwickeln können, also frei von den Fesseln des Staates. Es darf nicht die Betonung der einen Seite aus Kosten der andern geschehen. Beide müssen sich vielmehr gegenseitig durchdringen lernen. Wenn die „Welt" sich so oft nur noch durch gewisse Schattirungen von den „Gläubigen" unter¬ scheidet, wenn sie, ohne das Evangelium anzunehmen, sich doch von demselben in sichtbarer Weise hat durchdringen lassen, wenn man in derselben die Ehrbarkeit, eine verhältnißmäßtge Reinheit und überhaupt viele Wirkungen des Christenthums findet, so muß offenbar die Rolle des Christenthums gegen¬ über der Welt sich ändern: statt sich zu ihr in Gegensatz zu stellen, muß es sie vielmehr dadurch zu gewinnen suchen, daß es sich ihr nähert, — was freilich schwerer ist, als sich abzusondern; denn es erfordert tieferes Selbst¬ bewußtsein, eine größere Selbständigkeit. Aber der Zweck des Christenthums ist nun einmal nicht, das Menschenleben einzuschränken und einzuengen, son¬ dern dasselbe allseitig zu entwickeln. Die Aufgabe der. harmonischen Durchdringung der göttlichen und der menschlichen Seite der religiösen Wahrheit tritt durch deren feindliches sich einander Gegenüberstellen nur immer dringlicher hervor und der Mangel an Grenzboten I. 1870. 13

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123087
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123087/103
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123087/103>, abgerufen am 26.06.2024.