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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. I. Band.

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lich die Kirche in die Hände von Leuten käme, in welchen die "Freisinnigen"
sie nicht gerne sähen, würde dadurch beseitigt. Denn wenn der theologische
Unterricht öffentlich stattfände in den Anstalten und unter der Oberaufsicht
des Staates, so läge es zu jeder Zeit in der Macht der letzteren, abfälligen,
schädlichen Nichrungen durch Ernennung eigener Lehrer ein Gegengewicht zu
setzen und er würde so. statt wie bisher auf dem Wege der Bevormundung,
auf dem loyalen Wege der Freiheit den Zweck erreichen, um den allein es
ihm hier zu thun sein darf: eine ebenso nationale als liberale und all¬
seitige Bildung der Geistlichen. Etwas Aehnliches existirt bekanntlich schon
längst in Basel zur Zufriedenheit beider Theile, während ähnliche Be¬
strebungen von Seiten der frei-kirchlich Gesinnten in Bern an dem Bureau-
eratisMus der staatskirchlich-rationalistisch gesinnten Regierungsbehörden
scheiterten.

Der Verfasser erhebt sich zum Schluß auf einen hohen patriotischen und
internationalen Standpunkt. "Das Land", sagt er, "welches mit Freiheit
das bezeichnete Problem, diese Lebensfrage der modernen Gesellschaft zu lösen
wissen wird, hat somit große Aussicht, hierin der Mittelpunkt des Interesses
der europäischen Völker zu werden und eine jener tiefen Wirkungen aus¬
zuüben, welche in der Geschichte der Menschheit Epoche machen. Die wahre,
stetig fortschreitende politische Freiheit kann nur um diesen Preis erlangt,
die socialen Schwierigkeiten nur durch moralische Kräfte überwunden werden.
Die Religion muß zu diesem Zweck aus ihrer Gebundenheit erlöst werden
und, sich zu den modernen Bedürfnissen erhebend, ihren verlorenen Einfluß
wieder gewinnen. Sie muß Alles durchgingen, sie muß die Wissenschaften,
die Künste zwingen, zur Befreiung der Menschheit mitzuwirken. Sie muß
alle unsere berechtigten Begehren und Wünsche läutern und reinigen, indem
sie auf deren gesunde Befriedigung hinwirkt. Sie muß das Uebel durch das
Gute überwinden und uns jenes breite, große, volle und freudige Menschen¬
leben wiederbringen, das die Herzen aufthut und die Geister löst und uns
das Geheimniß des wahren Glaubens lehrt: jene schöne Selbstvergessenheit
und die Heiligung unseres Lebens für Gott und unseren Nächsten. Dies
Alles aber vermag die Kirche nur in und durch die Freiheit. Zunächst muß
also ihre eigene Befriedigung, das Unterpfand aller andern erkämpft werden.
Möchte die Schweiz, welche selbst frei ist, die Initiative zu dieser großen
Bewegung ergreifen und damit einen unermeßlichen Dienst ihren weniger
günstig gestellten Nachbarn erweisen. Es wäre ihr Ruhm und ihre
Sicherheit."

Einen praktischen Anfang zur Trennung von Kirche und Staat hat in
jüngster Zeit der Canton Neuen bürg gemacht. Die kirchlichen Kämpfe
des letzten Winters, in welchen Professor Buisson und sein Gegner Godet


13*

lich die Kirche in die Hände von Leuten käme, in welchen die „Freisinnigen"
sie nicht gerne sähen, würde dadurch beseitigt. Denn wenn der theologische
Unterricht öffentlich stattfände in den Anstalten und unter der Oberaufsicht
des Staates, so läge es zu jeder Zeit in der Macht der letzteren, abfälligen,
schädlichen Nichrungen durch Ernennung eigener Lehrer ein Gegengewicht zu
setzen und er würde so. statt wie bisher auf dem Wege der Bevormundung,
auf dem loyalen Wege der Freiheit den Zweck erreichen, um den allein es
ihm hier zu thun sein darf: eine ebenso nationale als liberale und all¬
seitige Bildung der Geistlichen. Etwas Aehnliches existirt bekanntlich schon
längst in Basel zur Zufriedenheit beider Theile, während ähnliche Be¬
strebungen von Seiten der frei-kirchlich Gesinnten in Bern an dem Bureau-
eratisMus der staatskirchlich-rationalistisch gesinnten Regierungsbehörden
scheiterten.

Der Verfasser erhebt sich zum Schluß auf einen hohen patriotischen und
internationalen Standpunkt. „Das Land", sagt er, „welches mit Freiheit
das bezeichnete Problem, diese Lebensfrage der modernen Gesellschaft zu lösen
wissen wird, hat somit große Aussicht, hierin der Mittelpunkt des Interesses
der europäischen Völker zu werden und eine jener tiefen Wirkungen aus¬
zuüben, welche in der Geschichte der Menschheit Epoche machen. Die wahre,
stetig fortschreitende politische Freiheit kann nur um diesen Preis erlangt,
die socialen Schwierigkeiten nur durch moralische Kräfte überwunden werden.
Die Religion muß zu diesem Zweck aus ihrer Gebundenheit erlöst werden
und, sich zu den modernen Bedürfnissen erhebend, ihren verlorenen Einfluß
wieder gewinnen. Sie muß Alles durchgingen, sie muß die Wissenschaften,
die Künste zwingen, zur Befreiung der Menschheit mitzuwirken. Sie muß
alle unsere berechtigten Begehren und Wünsche läutern und reinigen, indem
sie auf deren gesunde Befriedigung hinwirkt. Sie muß das Uebel durch das
Gute überwinden und uns jenes breite, große, volle und freudige Menschen¬
leben wiederbringen, das die Herzen aufthut und die Geister löst und uns
das Geheimniß des wahren Glaubens lehrt: jene schöne Selbstvergessenheit
und die Heiligung unseres Lebens für Gott und unseren Nächsten. Dies
Alles aber vermag die Kirche nur in und durch die Freiheit. Zunächst muß
also ihre eigene Befriedigung, das Unterpfand aller andern erkämpft werden.
Möchte die Schweiz, welche selbst frei ist, die Initiative zu dieser großen
Bewegung ergreifen und damit einen unermeßlichen Dienst ihren weniger
günstig gestellten Nachbarn erweisen. Es wäre ihr Ruhm und ihre
Sicherheit."

Einen praktischen Anfang zur Trennung von Kirche und Staat hat in
jüngster Zeit der Canton Neuen bürg gemacht. Die kirchlichen Kämpfe
des letzten Winters, in welchen Professor Buisson und sein Gegner Godet


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123087/105>, abgerufen am 26.06.2024.