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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. I. Band.

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der ihr später so üble Früchte erwachsen sollten, zeigte sich bald genug in
Spanien, Italien, Frankreich, wo die Reformation an dem mangelnden
Staatsschutze zu Grunde gehen sollte. In Deutschland und der Schweiz
aber verknöcherten die Staatskirchen. Erst in der französischen Revolution
traten die Principien der Reformation, freilich in ganz veränderter Gestalt,
als eine Art von weltlichem Patriotismus wieder hervor. Das specifisch
Religiöse fand hier nicht nur keinen Raum, sondern wurde sogar ausdrücklich
verworfen: an die Stelle des von der inneren Freiheit getragenen Strebens
nach äußerer Freiheit war der gewaltthätige republikanische Despotismus der
Freiheit getreten, welcher bald dem monarchischen Despotismus das Feld
räumen sollte. Die wahre Freiheit war nirgend mehr zu finden, weder im
Staate noch in der Kirche. Und doch blieb der Lebensnerv der ganzen
neuesten Zeit das Streben nach allgemeiner Freiheit. Merkwürdiger Weise
war aber die religiöse Freiheit, obschon doch ein Theil der allgemeinen, von
diesem Streben ausgeschlossen. Daher nur Fortschritt in den Wissenschaften
und Künsten, den materiellen Interessen und daneben unzufriedene Volks¬
massen und selbst bei den Glücklichen dieser Welt kein Frieden und kein
innerlich beruhigtes Dasein.

Wo blieb bei solchen Zuständen die Religion? Seit dem 16. Jahrhun¬
dert waren die Kirchen zu Hindernissen der Freiheit geworden. Vom allge¬
meinen Bewußtsein überholt, maßten sie sich dennoch an, demselben Gesetze
über sein Verhalten zu geben. Verachtung oder Haß, mindestens Gleich-
giltigkeit waren die Folgen dieses Verhältnisses. Der nimmer rastende Fort¬
schritt des Lebens vollzog sich entweder im feindlichen Gegensatze oder mit
völliger Nichtbeachtung der Kirchen. Sie allein blieben stehen, wo sie waren,
während die Welt fortschritt. Die stillen Kreise der Pietisten, die religiösen
Erweckungen auf einzelnen Punkten der versteinerten Staatskirchen vermochten
nicht, diesen letzteren neues Leben einzuhauchen, namentlich aber nicht, sie in
eine organische Verbindung mit der "Welt" zu bringen, um so weniger, als
in ihnen nicht nur an den Ueberlieferungen der Orthodoxie in manchen Be¬
strebungen streng festgehalten ward, sondern dieselben noch übertrieben wur¬
den. Dennoch heben diese Kirchlein fast immer irgend eine vernachlässigte
Seite der religiösen Wahrheit hervor und wurden so zu einem lebendi¬
gen Protest gegen die jedes Leben hemmende Verbindung der Kirche mit
dem Staate.

Eine andere Folge des Absterbens der Staatskirchen war der aus ihrem
Schooße aufkeimende Rationalismus und die diesem auf dem Fuße folgende
kritische Schule. Hier wurde die von der staatskirchlichen Orthodoxie ver¬
nachlässigte menschliche Seite der religiösen Wahrheit wieder zu Ehren zu
bringen gesucht. Die Kirchen hatten das ursprüngliche reformatorische Prin-


der ihr später so üble Früchte erwachsen sollten, zeigte sich bald genug in
Spanien, Italien, Frankreich, wo die Reformation an dem mangelnden
Staatsschutze zu Grunde gehen sollte. In Deutschland und der Schweiz
aber verknöcherten die Staatskirchen. Erst in der französischen Revolution
traten die Principien der Reformation, freilich in ganz veränderter Gestalt,
als eine Art von weltlichem Patriotismus wieder hervor. Das specifisch
Religiöse fand hier nicht nur keinen Raum, sondern wurde sogar ausdrücklich
verworfen: an die Stelle des von der inneren Freiheit getragenen Strebens
nach äußerer Freiheit war der gewaltthätige republikanische Despotismus der
Freiheit getreten, welcher bald dem monarchischen Despotismus das Feld
räumen sollte. Die wahre Freiheit war nirgend mehr zu finden, weder im
Staate noch in der Kirche. Und doch blieb der Lebensnerv der ganzen
neuesten Zeit das Streben nach allgemeiner Freiheit. Merkwürdiger Weise
war aber die religiöse Freiheit, obschon doch ein Theil der allgemeinen, von
diesem Streben ausgeschlossen. Daher nur Fortschritt in den Wissenschaften
und Künsten, den materiellen Interessen und daneben unzufriedene Volks¬
massen und selbst bei den Glücklichen dieser Welt kein Frieden und kein
innerlich beruhigtes Dasein.

Wo blieb bei solchen Zuständen die Religion? Seit dem 16. Jahrhun¬
dert waren die Kirchen zu Hindernissen der Freiheit geworden. Vom allge¬
meinen Bewußtsein überholt, maßten sie sich dennoch an, demselben Gesetze
über sein Verhalten zu geben. Verachtung oder Haß, mindestens Gleich-
giltigkeit waren die Folgen dieses Verhältnisses. Der nimmer rastende Fort¬
schritt des Lebens vollzog sich entweder im feindlichen Gegensatze oder mit
völliger Nichtbeachtung der Kirchen. Sie allein blieben stehen, wo sie waren,
während die Welt fortschritt. Die stillen Kreise der Pietisten, die religiösen
Erweckungen auf einzelnen Punkten der versteinerten Staatskirchen vermochten
nicht, diesen letzteren neues Leben einzuhauchen, namentlich aber nicht, sie in
eine organische Verbindung mit der „Welt" zu bringen, um so weniger, als
in ihnen nicht nur an den Ueberlieferungen der Orthodoxie in manchen Be¬
strebungen streng festgehalten ward, sondern dieselben noch übertrieben wur¬
den. Dennoch heben diese Kirchlein fast immer irgend eine vernachlässigte
Seite der religiösen Wahrheit hervor und wurden so zu einem lebendi¬
gen Protest gegen die jedes Leben hemmende Verbindung der Kirche mit
dem Staate.

Eine andere Folge des Absterbens der Staatskirchen war der aus ihrem
Schooße aufkeimende Rationalismus und die diesem auf dem Fuße folgende
kritische Schule. Hier wurde die von der staatskirchlichen Orthodoxie ver¬
nachlässigte menschliche Seite der religiösen Wahrheit wieder zu Ehren zu
bringen gesucht. Die Kirchen hatten das ursprüngliche reformatorische Prin-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123087/102>, abgerufen am 26.06.2024.