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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. I. Band.

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sunder Weise zu gestalten. Die sittliche Kraft müsse vor Allem wiederherge¬
stellt, das Uebel an der Wurzel angefaßt, die Seelen erneuert werden, um
von hier aus die Jnstititutionen zu verbessern und durch Erziehung, ja selbst
durch diese "Art von Kirche" die Menschen zur Freiheit in jeder Richtung
zu führen.

Es bleibt nun die Frage, ob die Mittel, die Buisson zur Erreichung
seiner Zwecke angibt, die richtigen sind. Herr B. will Sittlichkeit ohne Re¬
ligion. Denn was er mit dem letzteren Namen bezeichnet, ist nicht die
Grundlage der Sittlichkeit, sondern der durch Abstraktion gewonnene Ertract
des sittlichen Bewußtseins. Es entsteht also hier die Frage, ob eine echte
Sittlichkeit ohne Religion möglich ist? -- Wir dürfen hier füglich abbrechen und
uns zur anderen Seite der kirchlich-religiösen Reformbestrebungen wenden, der,
welche jene Frage verneint und den Grund des Uebels in der Art und Weise
findet, wie der allgemeine Inhalt der christlichen Religion in den Kirchen ge¬
lehrt und der Welt gegenüber vertreten und entwickelt wird.

Die Frage ist durch die neuesten Vorgänge in der Schweiz längst aus
den Kreisen der Theologen in die Laienwelt, ins gesammte Volk hinaus¬
getreten. Wir halten uns daher auch im Folgenden an einen Laien, der, so
weit uns bekannt, am geistvollsten zu ihrer Lösung beizutragen gesuchthat: Herrn
Tallichet*). Die Hauptursache des gegenwärtigen Uebels besteht nach ihm
darin, daß die Kirchen, sowohl die protestantische als die katholische, weil
hinter ihrer ursprünglichen und ewigen Aufgabe, eine Leuchte für das ge¬
sammte Menschenleben zu sein, zurückgeblieben sind, daß sie sich dem Leben
entfremdet haben. Die Frage ist also die: wie diese Entfremdung beseitigt
werden könne? Herr Tätlicher versucht deren Beantwortung an der Hand
der Geschichte, indem er nachweist, daß es in letzter Instanz überall die Ver¬
kümmerung der Freiheit des religiös-kirchlichen Lebens war, welche in Wechsel¬
wirkung sowohl dieses selbst lähmte, als das Weltleben ihm entfremdete und
dadurch auch dieses letztere um seine höchsten Ziele betrog. Das Uebel zeigte
sich, um von den früheren Zeiten zu schweigen, schon zur Zeit der Refor¬
mation. Schon damals als die Reformatoren des 16. Jahrhunderts die
Autorität des Papstes bekämpften und die freie Schriftforschung verkündigten,
ließen sie ihre regenerirte Kirche wieder auf die weltliche Gewalt sich stützen
und mit letzterer die Andersdenkenden verfolgen. Freilich, hätte sich die Re¬
formation nicht zu National- oder Staatskirchen cSnsolidirt. so hätte sie sich
unter den damaligen Verhältnissen kaum lange gegenüber der mächtigen
katholischen Kirche halten können. Diese geschichtliche Nothwendigkeit, aus



") Rövuv suisse 1869. I.s Olirmtiamsmo In>ör-a, -- Vgl. G. Wtdemann: "Die Religion
und das Recht der Welt, nebst ein Anhang über moralischen, geistigen und politischen Cha¬
rakter unserer Zeit." Nördlingen 1852.

sunder Weise zu gestalten. Die sittliche Kraft müsse vor Allem wiederherge¬
stellt, das Uebel an der Wurzel angefaßt, die Seelen erneuert werden, um
von hier aus die Jnstititutionen zu verbessern und durch Erziehung, ja selbst
durch diese „Art von Kirche" die Menschen zur Freiheit in jeder Richtung
zu führen.

Es bleibt nun die Frage, ob die Mittel, die Buisson zur Erreichung
seiner Zwecke angibt, die richtigen sind. Herr B. will Sittlichkeit ohne Re¬
ligion. Denn was er mit dem letzteren Namen bezeichnet, ist nicht die
Grundlage der Sittlichkeit, sondern der durch Abstraktion gewonnene Ertract
des sittlichen Bewußtseins. Es entsteht also hier die Frage, ob eine echte
Sittlichkeit ohne Religion möglich ist? — Wir dürfen hier füglich abbrechen und
uns zur anderen Seite der kirchlich-religiösen Reformbestrebungen wenden, der,
welche jene Frage verneint und den Grund des Uebels in der Art und Weise
findet, wie der allgemeine Inhalt der christlichen Religion in den Kirchen ge¬
lehrt und der Welt gegenüber vertreten und entwickelt wird.

Die Frage ist durch die neuesten Vorgänge in der Schweiz längst aus
den Kreisen der Theologen in die Laienwelt, ins gesammte Volk hinaus¬
getreten. Wir halten uns daher auch im Folgenden an einen Laien, der, so
weit uns bekannt, am geistvollsten zu ihrer Lösung beizutragen gesuchthat: Herrn
Tallichet*). Die Hauptursache des gegenwärtigen Uebels besteht nach ihm
darin, daß die Kirchen, sowohl die protestantische als die katholische, weil
hinter ihrer ursprünglichen und ewigen Aufgabe, eine Leuchte für das ge¬
sammte Menschenleben zu sein, zurückgeblieben sind, daß sie sich dem Leben
entfremdet haben. Die Frage ist also die: wie diese Entfremdung beseitigt
werden könne? Herr Tätlicher versucht deren Beantwortung an der Hand
der Geschichte, indem er nachweist, daß es in letzter Instanz überall die Ver¬
kümmerung der Freiheit des religiös-kirchlichen Lebens war, welche in Wechsel¬
wirkung sowohl dieses selbst lähmte, als das Weltleben ihm entfremdete und
dadurch auch dieses letztere um seine höchsten Ziele betrog. Das Uebel zeigte
sich, um von den früheren Zeiten zu schweigen, schon zur Zeit der Refor¬
mation. Schon damals als die Reformatoren des 16. Jahrhunderts die
Autorität des Papstes bekämpften und die freie Schriftforschung verkündigten,
ließen sie ihre regenerirte Kirche wieder auf die weltliche Gewalt sich stützen
und mit letzterer die Andersdenkenden verfolgen. Freilich, hätte sich die Re¬
formation nicht zu National- oder Staatskirchen cSnsolidirt. so hätte sie sich
unter den damaligen Verhältnissen kaum lange gegenüber der mächtigen
katholischen Kirche halten können. Diese geschichtliche Nothwendigkeit, aus



") Rövuv suisse 1869. I.s Olirmtiamsmo In>ör-a, — Vgl. G. Wtdemann: „Die Religion
und das Recht der Welt, nebst ein Anhang über moralischen, geistigen und politischen Cha¬
rakter unserer Zeit." Nördlingen 1852.
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[0101] sunder Weise zu gestalten. Die sittliche Kraft müsse vor Allem wiederherge¬ stellt, das Uebel an der Wurzel angefaßt, die Seelen erneuert werden, um von hier aus die Jnstititutionen zu verbessern und durch Erziehung, ja selbst durch diese „Art von Kirche" die Menschen zur Freiheit in jeder Richtung zu führen. Es bleibt nun die Frage, ob die Mittel, die Buisson zur Erreichung seiner Zwecke angibt, die richtigen sind. Herr B. will Sittlichkeit ohne Re¬ ligion. Denn was er mit dem letzteren Namen bezeichnet, ist nicht die Grundlage der Sittlichkeit, sondern der durch Abstraktion gewonnene Ertract des sittlichen Bewußtseins. Es entsteht also hier die Frage, ob eine echte Sittlichkeit ohne Religion möglich ist? — Wir dürfen hier füglich abbrechen und uns zur anderen Seite der kirchlich-religiösen Reformbestrebungen wenden, der, welche jene Frage verneint und den Grund des Uebels in der Art und Weise findet, wie der allgemeine Inhalt der christlichen Religion in den Kirchen ge¬ lehrt und der Welt gegenüber vertreten und entwickelt wird. Die Frage ist durch die neuesten Vorgänge in der Schweiz längst aus den Kreisen der Theologen in die Laienwelt, ins gesammte Volk hinaus¬ getreten. Wir halten uns daher auch im Folgenden an einen Laien, der, so weit uns bekannt, am geistvollsten zu ihrer Lösung beizutragen gesuchthat: Herrn Tallichet*). Die Hauptursache des gegenwärtigen Uebels besteht nach ihm darin, daß die Kirchen, sowohl die protestantische als die katholische, weil hinter ihrer ursprünglichen und ewigen Aufgabe, eine Leuchte für das ge¬ sammte Menschenleben zu sein, zurückgeblieben sind, daß sie sich dem Leben entfremdet haben. Die Frage ist also die: wie diese Entfremdung beseitigt werden könne? Herr Tätlicher versucht deren Beantwortung an der Hand der Geschichte, indem er nachweist, daß es in letzter Instanz überall die Ver¬ kümmerung der Freiheit des religiös-kirchlichen Lebens war, welche in Wechsel¬ wirkung sowohl dieses selbst lähmte, als das Weltleben ihm entfremdete und dadurch auch dieses letztere um seine höchsten Ziele betrog. Das Uebel zeigte sich, um von den früheren Zeiten zu schweigen, schon zur Zeit der Refor¬ mation. Schon damals als die Reformatoren des 16. Jahrhunderts die Autorität des Papstes bekämpften und die freie Schriftforschung verkündigten, ließen sie ihre regenerirte Kirche wieder auf die weltliche Gewalt sich stützen und mit letzterer die Andersdenkenden verfolgen. Freilich, hätte sich die Re¬ formation nicht zu National- oder Staatskirchen cSnsolidirt. so hätte sie sich unter den damaligen Verhältnissen kaum lange gegenüber der mächtigen katholischen Kirche halten können. Diese geschichtliche Nothwendigkeit, aus ") Rövuv suisse 1869. I.s Olirmtiamsmo In>ör-a, — Vgl. G. Wtdemann: „Die Religion und das Recht der Welt, nebst ein Anhang über moralischen, geistigen und politischen Cha¬ rakter unserer Zeit." Nördlingen 1852.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123087/101>, abgerufen am 26.06.2024.