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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. II. Band.

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hilft, kann nur Selbstbekenntniß sein. Aber die Contraste locken ihn und er
macht seine Dichtung dadurch besonders pikant, daß er das ungeschminkte
Naturell seiner Charaktere durch die engsten gesellschaftlichen Formen hin¬
durchschimmern läßt. Diese letzteren find ihm allerdings so sehr zur zweiten
Natur geworden, daß er selbst seinen niedersten Nebenfiguren, Leibeignen,
Kammerjungfern und Dorsgastwirthen einen eigenthümlichen instinktiv noblen
Zug beimischt, der sie in gewissem Sinne salonfähig macht.

Aus seiner Neigung, antike Humanität mit moderner Urbanität zu ver¬
binden, haben wir auch die Vorliebe zu verstehen, hie er für die classischen
Dichter der Franzosen beweist. Ein Deutscher kann es freilich nicht ohne
Befremden lesen, wenn dieser so vielseitig ästhetisch durchgebildete Autor, nach¬
dem er die Passion eines seiner Helden sür Shakespeare's "Hamlet" geschil¬
dert, sich beeilt hinzuzusetzen: "nicht daß er darin mehr Kunst oder Genie
gesunden hätte, als im Cid oder Britanniens!" -- und muß gegen die Art
und Welse, in der er uns die Verkennung und Geringschätzung jener Dichter
vorwirft, ("unsere" Classiker nennt er sie) ernsthaft protestiren. Denn es ist
unwahr, daß man dieselben bei uns geflissentlich ignorirte; am allerwenigsten
ist es bei Moliere der Fall, von dem uns erst kürzlich Graf Baudissin eine
vortreffliche neue Uebersetzung geschenkt hat, und der soeben wieder durch
Humbert, einen Molierekenner, um den uns Frankreich beneiden darf, eine
fast überschwängliche Würdigung erhalten; auch werden diejenigen seiner Stücke,
die von bleibendem und allgemeinerem Interesse sind, von den Bühnen gern
hervorgesucht; Dönng zählte den Tartüffe, Dawison den Geizigen zu seinen
Glanzrollen, und selbst die "gelehrten Frauen" hat man in Dresden und
Prag neulich achtungsvoll aufgenommen. Für Schulen haben wir ganze
Molierechrestomathieen. Was aber die Tragiker anbetrifft, so erscheinen ihre
Hauptwerke in immer neuen Abdrücken, und es ist kaum ein Gymnasium,
wo nicht wenigstens ein Stück (gewöhnlich die Athalie) gelesen würde. Ra¬
cine's Esther sah Res. selbst in einer der bekanntesten Erziehungsanstalten
Berlins vor wenig Wochen aufgeführt. Dem gegenüber sind wir doch nur
berechtigt zu fragen: wann wird es dahin kommen, daß unsere deutschen
Classiker auf französischen Schulen nur in entfernt ähnlicher Weise be¬
kannt werden? und wann wird die französische Bühne mit gleicher Willig¬
keit gediegenen deutschen Arbeiten ihren Vorhang öffnen? -- Das anerken¬
nende Urtheil Goethe's und Schiller's, auf welches Cherbuliez verweist, ist
uns, sofern es in jenen Dichtern einen edlen Geist, der immer die Kunst
hoch geachtet, und seine sorgfältig geschulten Formen schätzen heißt, nicht
fremd geworden, auch wenn unsere Kritik seit Schlegel an manchen ihrer
Fehler oft zu kleinlich gemäkelt har. Wenn aber Herr Cherbuliez es unter¬
nimmt, Lessing eine Kritik in die Feder zu dictiren, wie er sie als Philo-


hilft, kann nur Selbstbekenntniß sein. Aber die Contraste locken ihn und er
macht seine Dichtung dadurch besonders pikant, daß er das ungeschminkte
Naturell seiner Charaktere durch die engsten gesellschaftlichen Formen hin¬
durchschimmern läßt. Diese letzteren find ihm allerdings so sehr zur zweiten
Natur geworden, daß er selbst seinen niedersten Nebenfiguren, Leibeignen,
Kammerjungfern und Dorsgastwirthen einen eigenthümlichen instinktiv noblen
Zug beimischt, der sie in gewissem Sinne salonfähig macht.

Aus seiner Neigung, antike Humanität mit moderner Urbanität zu ver¬
binden, haben wir auch die Vorliebe zu verstehen, hie er für die classischen
Dichter der Franzosen beweist. Ein Deutscher kann es freilich nicht ohne
Befremden lesen, wenn dieser so vielseitig ästhetisch durchgebildete Autor, nach¬
dem er die Passion eines seiner Helden sür Shakespeare's „Hamlet" geschil¬
dert, sich beeilt hinzuzusetzen: „nicht daß er darin mehr Kunst oder Genie
gesunden hätte, als im Cid oder Britanniens!" — und muß gegen die Art
und Welse, in der er uns die Verkennung und Geringschätzung jener Dichter
vorwirft, („unsere" Classiker nennt er sie) ernsthaft protestiren. Denn es ist
unwahr, daß man dieselben bei uns geflissentlich ignorirte; am allerwenigsten
ist es bei Moliere der Fall, von dem uns erst kürzlich Graf Baudissin eine
vortreffliche neue Uebersetzung geschenkt hat, und der soeben wieder durch
Humbert, einen Molierekenner, um den uns Frankreich beneiden darf, eine
fast überschwängliche Würdigung erhalten; auch werden diejenigen seiner Stücke,
die von bleibendem und allgemeinerem Interesse sind, von den Bühnen gern
hervorgesucht; Dönng zählte den Tartüffe, Dawison den Geizigen zu seinen
Glanzrollen, und selbst die „gelehrten Frauen" hat man in Dresden und
Prag neulich achtungsvoll aufgenommen. Für Schulen haben wir ganze
Molierechrestomathieen. Was aber die Tragiker anbetrifft, so erscheinen ihre
Hauptwerke in immer neuen Abdrücken, und es ist kaum ein Gymnasium,
wo nicht wenigstens ein Stück (gewöhnlich die Athalie) gelesen würde. Ra¬
cine's Esther sah Res. selbst in einer der bekanntesten Erziehungsanstalten
Berlins vor wenig Wochen aufgeführt. Dem gegenüber sind wir doch nur
berechtigt zu fragen: wann wird es dahin kommen, daß unsere deutschen
Classiker auf französischen Schulen nur in entfernt ähnlicher Weise be¬
kannt werden? und wann wird die französische Bühne mit gleicher Willig¬
keit gediegenen deutschen Arbeiten ihren Vorhang öffnen? — Das anerken¬
nende Urtheil Goethe's und Schiller's, auf welches Cherbuliez verweist, ist
uns, sofern es in jenen Dichtern einen edlen Geist, der immer die Kunst
hoch geachtet, und seine sorgfältig geschulten Formen schätzen heißt, nicht
fremd geworden, auch wenn unsere Kritik seit Schlegel an manchen ihrer
Fehler oft zu kleinlich gemäkelt har. Wenn aber Herr Cherbuliez es unter¬
nimmt, Lessing eine Kritik in die Feder zu dictiren, wie er sie als Philo-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_121754/78>, abgerufen am 01.07.2024.