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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. II. Band.

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der Ideen durch Personen verschiedener Nationalität zu bewerkstelligen und
den Antheil, den ein ganzes Volksthum- an der großen Weltarbeit nimmt,
anzudeuten. Es ist offenbar, daß Werke von edlem menschlichen Gehalte,
denen diese Form gelingt, zu einem werthvollen internationalen Bande
werden müssen, und schon das bloße Streben ist der Anerkennung werth.
Für uns liegt die Frage am nächsten, in wie weit bei ihm das deutsche
Element zur Geltung kommt.

Doppelte Pietät machte ihm dasselbe werth und verständlich. Sein
Vater, an dessen Lebensgang er oft zu erinnern scheint, war es gerade, der
an der Genfer Universität die Resultate deutscher Wissenschaft besonders be¬
günstigt; sein Erzieher Tövffer hatte mit dem deutschen Namen sich deutsche
Gemüthsart erhalten und seine eigenen reifsten Studienjahre fallen nach
Deutschland. Obgleich das sociale Leben Frankreichs ihm die unverbrüchliche
Form darbietet, und seine Leidenschaft für die bildende Kunst Italien ihm
zur zweiten Heimath macht, immer vernehmen wir doch in der dichterischen
Empfindung und Stimmung seiner Werke den Wiederhall deutscher Musik
und Poesie und sehen den Einfluß deutscher Wissenschaft in der gediegenen
philologisch-historischen Basis, auf die er seine Essays gründet; auch die
philosophische Weltanschauung, die alle seine Gestalten und Motive umschließt
und illustrirt, ist deutsches Eigenthum.

Der französische Beurtheiler hat von einer zehnten Muse Namens
"Erweis" gesprochen, die unser modernes Schriftstellerthum inspirire, und
nachdem sie sich zuerst in Lessing in ihrer vollen Hoheit und Unabhängigkeit
geoffenbart, dann in dem größten poetischen Genius unseres Jahrhunderts
die innigste Verbindung mit dem dichterischen Schaffen eingegangen; in wel¬
chem Sinne denn auch Cherbuliez unter die bedeutendsten Epigonen Goethes
zu rechnen sei. Das ist viel, aber nicht falsch. Auch bei Cherbuliez ist jeder
Gedanke so sorgfältig ästhetisch gewogen, so harmonisch ausgesprochen, daß
Absicht und Ausdruck sich fast allenthalben decken; hier wie dort steht das
Studium der Natur mit dem der Kurist im engsten Bunde; jede Gegend,
jede Blume redet ihre charakteristische Sprache, und der Mensch wiederum
mit seinen höchsten geistigen Gefühlen verschwindet als bloße Sache, als
kleine Welle in dem großen Ocean der spinozistischen Intuition, die seine
Dichtung wie einst die goethesche in einem weilen Nahmen umspannt. Aber
freilich, wenn bei Goethe die poetische Inspiration immer das erste, die Re¬
flexion, in die sie sich hüllt, das nachfolgende ist, findet sich bei dem moder¬
nen Dichter jedes Motiv sofort in voller verstandesmäßiger Nettigkeit und
erlangt erst Hinterbein seine ideale Fassung und dichterische Rundung. Er
weiß allerdings jenen geheimnißvollen Reiz deutscher Poesie "in bunten Bil¬
dern wenig Klarheit, viel Irrthum und ein Fünkchen Wahrheit" tief zu


der Ideen durch Personen verschiedener Nationalität zu bewerkstelligen und
den Antheil, den ein ganzes Volksthum- an der großen Weltarbeit nimmt,
anzudeuten. Es ist offenbar, daß Werke von edlem menschlichen Gehalte,
denen diese Form gelingt, zu einem werthvollen internationalen Bande
werden müssen, und schon das bloße Streben ist der Anerkennung werth.
Für uns liegt die Frage am nächsten, in wie weit bei ihm das deutsche
Element zur Geltung kommt.

Doppelte Pietät machte ihm dasselbe werth und verständlich. Sein
Vater, an dessen Lebensgang er oft zu erinnern scheint, war es gerade, der
an der Genfer Universität die Resultate deutscher Wissenschaft besonders be¬
günstigt; sein Erzieher Tövffer hatte mit dem deutschen Namen sich deutsche
Gemüthsart erhalten und seine eigenen reifsten Studienjahre fallen nach
Deutschland. Obgleich das sociale Leben Frankreichs ihm die unverbrüchliche
Form darbietet, und seine Leidenschaft für die bildende Kunst Italien ihm
zur zweiten Heimath macht, immer vernehmen wir doch in der dichterischen
Empfindung und Stimmung seiner Werke den Wiederhall deutscher Musik
und Poesie und sehen den Einfluß deutscher Wissenschaft in der gediegenen
philologisch-historischen Basis, auf die er seine Essays gründet; auch die
philosophische Weltanschauung, die alle seine Gestalten und Motive umschließt
und illustrirt, ist deutsches Eigenthum.

Der französische Beurtheiler hat von einer zehnten Muse Namens
„Erweis" gesprochen, die unser modernes Schriftstellerthum inspirire, und
nachdem sie sich zuerst in Lessing in ihrer vollen Hoheit und Unabhängigkeit
geoffenbart, dann in dem größten poetischen Genius unseres Jahrhunderts
die innigste Verbindung mit dem dichterischen Schaffen eingegangen; in wel¬
chem Sinne denn auch Cherbuliez unter die bedeutendsten Epigonen Goethes
zu rechnen sei. Das ist viel, aber nicht falsch. Auch bei Cherbuliez ist jeder
Gedanke so sorgfältig ästhetisch gewogen, so harmonisch ausgesprochen, daß
Absicht und Ausdruck sich fast allenthalben decken; hier wie dort steht das
Studium der Natur mit dem der Kurist im engsten Bunde; jede Gegend,
jede Blume redet ihre charakteristische Sprache, und der Mensch wiederum
mit seinen höchsten geistigen Gefühlen verschwindet als bloße Sache, als
kleine Welle in dem großen Ocean der spinozistischen Intuition, die seine
Dichtung wie einst die goethesche in einem weilen Nahmen umspannt. Aber
freilich, wenn bei Goethe die poetische Inspiration immer das erste, die Re¬
flexion, in die sie sich hüllt, das nachfolgende ist, findet sich bei dem moder¬
nen Dichter jedes Motiv sofort in voller verstandesmäßiger Nettigkeit und
erlangt erst Hinterbein seine ideale Fassung und dichterische Rundung. Er
weiß allerdings jenen geheimnißvollen Reiz deutscher Poesie „in bunten Bil¬
dern wenig Klarheit, viel Irrthum und ein Fünkchen Wahrheit" tief zu


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_121754/76>, abgerufen am 26.06.2024.