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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. II. Band.

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Richtung hervorgehoben. In der That besitzt der Verfasser ein hervorragendes
Talent für die Charakterisirung religiöser Erscheinungen und je complicirter
dieselben sind, um so glänzender zeigt sich seine Virtuosität, Der Nachweis
von Pascal's Seelenzustand vor und nach der Bekehrung, das wechselnde
Verhältniß, in dem er zu den Männern von Port-Royal steht, die Motive,
die seiner schriftstellerischen Thätigkeit zu Grunde liegen, die Verschiedenheit
in Ton und Absicht der beiden Hauptgruppen seiner Provincialbriefe, der
Mythus vom wunderthätigen Dorn in seiner verhängnißvollen Bedeutung
für das Kloster wie für Pascal persönlich, das Alles ist neu, scharfsinnig,
überzeugend und in spannenden Vortrage entwickelt. Wir lernen wirklich
einen anderen Pascal kennen, als er uns durch die bisherigen, meist im
Voraus allzugünflig eingenommenen Darstellungen übermittelt war.

Die bedeutendste That von Pascal's Leben sind seine Provincialbriefe.
Mit Recht hat sie der Verfasser ausführlich analysirt. Es bedarf keiner Aus¬
führung, wie zeitgemäß es ist, diesen Versuch eines principiellen Angriffs auf
den Jesuitismus, der anscheinend mit so siegreichen Waffen geführt wurde
und doch vollständig unterliegen sollte, der Gegenwart zu Nutz und Frommen
wieder vorzusühren. Zwar scheint das eigentliche Object des Angriffs, die
damalige Jesuitenmoral, heute nicht mehr in Frage zu stehen. Die Jesuiten
haben gelernt vorsichtiger zu sein, Manches haben sie selber zurückgenommen,
einzelne Schößlinge sind auch von der Kirche verurtheilt worden. Aber doch
werden noch heute in jesuitischen Lehrbüchern Sätze vorgetragen, welche die
Familientradition nicht verleugnen können, wie denn z. B. in dem bekannten
Compendium des Paters Gury, Regensburg 1868, gelehrt wird: "Sage
nicht, daß man aus Noth "stehlen" dürfe, denn alsdann hört es auf. Dieb¬
stahl zu sein." Allein, was wichtiger ist, vortrefflich weist Dreydorff nach,
daß jene kasuistischen Entscheidungen der Väter nicht etwa blos "zufällige"
Entartungen sind, sondern daß die jesuitische Ethik aufs innigste mit dem
ganzen Wesen des Ordens zusammenhängt. Der leitende Gedanke des Jesui¬
tismus ist die alleinige und absolute Herrschaft über die Gewissen. Dies ist
nun zwar das Ziel aller Hierarchie ältester wie neuester Zeit. Aber in den
Mitteln, durch welche sie ihren Ansprüchen Anerkennung erzwingt, ist Aus¬
wahl und Veränderung möglich und insoweit diese Mittel von allen früheren
verschieden und eigenthümlicher Art gewesen sind, läßt sich die Thätigkeit des
Jesuitismus allerdings als eine neue und eigenthümliche bezeichnen. Als im
Laufe der Zeit der gereifter? Theil der getauften Menschheit sich das Recht
eines ungestraften Abfalls von der Hierarchie mühsam erkämpft hatte, da
galt es für diese, noch weit größere, als alle bisherigen Anstrengungen zu
machen, wenn sie, abgesehen von Wiedereroberungsgelüsten, auch nur in dem
ihr gebliebenen Gebiet sich in ihrer so gewaltig erschütterten Autorität be-


Grenzdoten IV. 18VV, 65

Richtung hervorgehoben. In der That besitzt der Verfasser ein hervorragendes
Talent für die Charakterisirung religiöser Erscheinungen und je complicirter
dieselben sind, um so glänzender zeigt sich seine Virtuosität, Der Nachweis
von Pascal's Seelenzustand vor und nach der Bekehrung, das wechselnde
Verhältniß, in dem er zu den Männern von Port-Royal steht, die Motive,
die seiner schriftstellerischen Thätigkeit zu Grunde liegen, die Verschiedenheit
in Ton und Absicht der beiden Hauptgruppen seiner Provincialbriefe, der
Mythus vom wunderthätigen Dorn in seiner verhängnißvollen Bedeutung
für das Kloster wie für Pascal persönlich, das Alles ist neu, scharfsinnig,
überzeugend und in spannenden Vortrage entwickelt. Wir lernen wirklich
einen anderen Pascal kennen, als er uns durch die bisherigen, meist im
Voraus allzugünflig eingenommenen Darstellungen übermittelt war.

Die bedeutendste That von Pascal's Leben sind seine Provincialbriefe.
Mit Recht hat sie der Verfasser ausführlich analysirt. Es bedarf keiner Aus¬
führung, wie zeitgemäß es ist, diesen Versuch eines principiellen Angriffs auf
den Jesuitismus, der anscheinend mit so siegreichen Waffen geführt wurde
und doch vollständig unterliegen sollte, der Gegenwart zu Nutz und Frommen
wieder vorzusühren. Zwar scheint das eigentliche Object des Angriffs, die
damalige Jesuitenmoral, heute nicht mehr in Frage zu stehen. Die Jesuiten
haben gelernt vorsichtiger zu sein, Manches haben sie selber zurückgenommen,
einzelne Schößlinge sind auch von der Kirche verurtheilt worden. Aber doch
werden noch heute in jesuitischen Lehrbüchern Sätze vorgetragen, welche die
Familientradition nicht verleugnen können, wie denn z. B. in dem bekannten
Compendium des Paters Gury, Regensburg 1868, gelehrt wird: „Sage
nicht, daß man aus Noth „stehlen" dürfe, denn alsdann hört es auf. Dieb¬
stahl zu sein." Allein, was wichtiger ist, vortrefflich weist Dreydorff nach,
daß jene kasuistischen Entscheidungen der Väter nicht etwa blos „zufällige"
Entartungen sind, sondern daß die jesuitische Ethik aufs innigste mit dem
ganzen Wesen des Ordens zusammenhängt. Der leitende Gedanke des Jesui¬
tismus ist die alleinige und absolute Herrschaft über die Gewissen. Dies ist
nun zwar das Ziel aller Hierarchie ältester wie neuester Zeit. Aber in den
Mitteln, durch welche sie ihren Ansprüchen Anerkennung erzwingt, ist Aus¬
wahl und Veränderung möglich und insoweit diese Mittel von allen früheren
verschieden und eigenthümlicher Art gewesen sind, läßt sich die Thätigkeit des
Jesuitismus allerdings als eine neue und eigenthümliche bezeichnen. Als im
Laufe der Zeit der gereifter? Theil der getauften Menschheit sich das Recht
eines ungestraften Abfalls von der Hierarchie mühsam erkämpft hatte, da
galt es für diese, noch weit größere, als alle bisherigen Anstrengungen zu
machen, wenn sie, abgesehen von Wiedereroberungsgelüsten, auch nur in dem
ihr gebliebenen Gebiet sich in ihrer so gewaltig erschütterten Autorität be-


Grenzdoten IV. 18VV, 65
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[0521] Richtung hervorgehoben. In der That besitzt der Verfasser ein hervorragendes Talent für die Charakterisirung religiöser Erscheinungen und je complicirter dieselben sind, um so glänzender zeigt sich seine Virtuosität, Der Nachweis von Pascal's Seelenzustand vor und nach der Bekehrung, das wechselnde Verhältniß, in dem er zu den Männern von Port-Royal steht, die Motive, die seiner schriftstellerischen Thätigkeit zu Grunde liegen, die Verschiedenheit in Ton und Absicht der beiden Hauptgruppen seiner Provincialbriefe, der Mythus vom wunderthätigen Dorn in seiner verhängnißvollen Bedeutung für das Kloster wie für Pascal persönlich, das Alles ist neu, scharfsinnig, überzeugend und in spannenden Vortrage entwickelt. Wir lernen wirklich einen anderen Pascal kennen, als er uns durch die bisherigen, meist im Voraus allzugünflig eingenommenen Darstellungen übermittelt war. Die bedeutendste That von Pascal's Leben sind seine Provincialbriefe. Mit Recht hat sie der Verfasser ausführlich analysirt. Es bedarf keiner Aus¬ führung, wie zeitgemäß es ist, diesen Versuch eines principiellen Angriffs auf den Jesuitismus, der anscheinend mit so siegreichen Waffen geführt wurde und doch vollständig unterliegen sollte, der Gegenwart zu Nutz und Frommen wieder vorzusühren. Zwar scheint das eigentliche Object des Angriffs, die damalige Jesuitenmoral, heute nicht mehr in Frage zu stehen. Die Jesuiten haben gelernt vorsichtiger zu sein, Manches haben sie selber zurückgenommen, einzelne Schößlinge sind auch von der Kirche verurtheilt worden. Aber doch werden noch heute in jesuitischen Lehrbüchern Sätze vorgetragen, welche die Familientradition nicht verleugnen können, wie denn z. B. in dem bekannten Compendium des Paters Gury, Regensburg 1868, gelehrt wird: „Sage nicht, daß man aus Noth „stehlen" dürfe, denn alsdann hört es auf. Dieb¬ stahl zu sein." Allein, was wichtiger ist, vortrefflich weist Dreydorff nach, daß jene kasuistischen Entscheidungen der Väter nicht etwa blos „zufällige" Entartungen sind, sondern daß die jesuitische Ethik aufs innigste mit dem ganzen Wesen des Ordens zusammenhängt. Der leitende Gedanke des Jesui¬ tismus ist die alleinige und absolute Herrschaft über die Gewissen. Dies ist nun zwar das Ziel aller Hierarchie ältester wie neuester Zeit. Aber in den Mitteln, durch welche sie ihren Ansprüchen Anerkennung erzwingt, ist Aus¬ wahl und Veränderung möglich und insoweit diese Mittel von allen früheren verschieden und eigenthümlicher Art gewesen sind, läßt sich die Thätigkeit des Jesuitismus allerdings als eine neue und eigenthümliche bezeichnen. Als im Laufe der Zeit der gereifter? Theil der getauften Menschheit sich das Recht eines ungestraften Abfalls von der Hierarchie mühsam erkämpft hatte, da galt es für diese, noch weit größere, als alle bisherigen Anstrengungen zu machen, wenn sie, abgesehen von Wiedereroberungsgelüsten, auch nur in dem ihr gebliebenen Gebiet sich in ihrer so gewaltig erschütterten Autorität be- Grenzdoten IV. 18VV, 65

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_121754/521>, abgerufen am 22.07.2024.