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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. II. Band.

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weise die allgemeinen Züge des Nationalcharakters, die in verschiedenen
Graden, doch minder ausgeprägt in den andern Classen gefunden werden.
Eine gewisse allgemeine Klugheit und der Wunsch nicht sowohl nach Reich¬
thum als nach einer ruhigen und sichern Unabhängigkeit, sind die Haupt¬
züge des französischen Charakters.

Der Franzose ist überhaupt vielleicht nicht so sehr von der Phantasie
beherrscht als man gewöhnlich glaubt, und ernster tiefer Ehrgeiz ist bei ihm
seltener, als das Streben nach Lob und Ruhm im kleineren Kreise.

Er ist eher geneigt, sein Geschick mit einem gewissen Gleichmuth zu
tragen und der Name Philosoph, den er einem Manne gibt, der leicht zu¬
friedenzustellen ist. wird in Frankreich auch am öftesten verdient, weil die
Leidenschaften zwar rasch geweckt, aber kurz von Dauer sind und die Frei¬
heit des Urtheils daher auf die Länge wenig trüben. Daher beeinträchtigen
auch politische Kämpfe die Gerechtigkeit des Urtheils weniger als anderswo,
man verfolgt selbst unpopuläre Tendenzen mit Interesse, wenn sie geistvoll
und beredt vertheidigt werden, ja man sieht seine eigene Ansicht gern vom
Talent bekämpft.

Das Familienleben steht in Frankreich unter dem Gesetz des nationalen
Erbrechts, welches fordert, daß jedes Vermögen zu gleichen Theilen unter
die Kinder getheilt werde. Da nun Frankreich keine Colonien hat. auch
jede Auswanderung als Strafe oder verzweifeltes Mittel betrachtet wird und
andererseits die Franzosen im Allgemeinen ihre Kinder sehr lieben, so er¬
klärt es sich, daß bei der Eheschließung die Rücksicht auf Vermögen so
stark mitspricht und daß die Zahl der Kinder eine geringe ist. Daher die
große Zahl der Vernunftheirathen d. h. der Ehen, welche durch ein von der
Vernunft vorgezeichnetes Interesse bestimmt worden sind und die am häufigsten
wie ein Geschäft gleich von den Eltern oder Anwälten der Familie abge¬
schlossen werden. Die traurige Seite dieser Bündnisse, welche ihnen alle Poesie
der Liebe nimmt, bestreitet unser Verfasser nicht, aber er betont, daß man darum
doch nicht die Sensationsschilderungen des französischen Ehelebens als Spiegel¬
bild der täglichen Wahrheit annehmen dürfe. Die Familien in Frankreich seien
nicht schlechter als anderswo, der klare Kopf, der überwiegende Verstand, welcher
die französische Frau vermocht, eine Vernunftheirath zu schließen, läßt sie auch
später das Beste daraus machen; dazu kommt die Unmöglichkeit der Scheidung
einer katholischen Ehe, so daß nur äußerliche Trennung, nie Wiederver-
heirathung möglich wäre und schließlich die gemeinsame Liebe zu den Kindern.,

Man kann dieser Auffassung Pre'post-Paradol's im Allgemeinen beistim¬
men, ohne sie doch als erschöpfend anzunehmen. Gewiß zeichnet sich die
Französin durch rasche Auffassungsgabe und einen offenen Kopf für Geschäfte
aus; wett öfter, als es in England oder Deutschland der Fall ist, führt die


weise die allgemeinen Züge des Nationalcharakters, die in verschiedenen
Graden, doch minder ausgeprägt in den andern Classen gefunden werden.
Eine gewisse allgemeine Klugheit und der Wunsch nicht sowohl nach Reich¬
thum als nach einer ruhigen und sichern Unabhängigkeit, sind die Haupt¬
züge des französischen Charakters.

Der Franzose ist überhaupt vielleicht nicht so sehr von der Phantasie
beherrscht als man gewöhnlich glaubt, und ernster tiefer Ehrgeiz ist bei ihm
seltener, als das Streben nach Lob und Ruhm im kleineren Kreise.

Er ist eher geneigt, sein Geschick mit einem gewissen Gleichmuth zu
tragen und der Name Philosoph, den er einem Manne gibt, der leicht zu¬
friedenzustellen ist. wird in Frankreich auch am öftesten verdient, weil die
Leidenschaften zwar rasch geweckt, aber kurz von Dauer sind und die Frei¬
heit des Urtheils daher auf die Länge wenig trüben. Daher beeinträchtigen
auch politische Kämpfe die Gerechtigkeit des Urtheils weniger als anderswo,
man verfolgt selbst unpopuläre Tendenzen mit Interesse, wenn sie geistvoll
und beredt vertheidigt werden, ja man sieht seine eigene Ansicht gern vom
Talent bekämpft.

Das Familienleben steht in Frankreich unter dem Gesetz des nationalen
Erbrechts, welches fordert, daß jedes Vermögen zu gleichen Theilen unter
die Kinder getheilt werde. Da nun Frankreich keine Colonien hat. auch
jede Auswanderung als Strafe oder verzweifeltes Mittel betrachtet wird und
andererseits die Franzosen im Allgemeinen ihre Kinder sehr lieben, so er¬
klärt es sich, daß bei der Eheschließung die Rücksicht auf Vermögen so
stark mitspricht und daß die Zahl der Kinder eine geringe ist. Daher die
große Zahl der Vernunftheirathen d. h. der Ehen, welche durch ein von der
Vernunft vorgezeichnetes Interesse bestimmt worden sind und die am häufigsten
wie ein Geschäft gleich von den Eltern oder Anwälten der Familie abge¬
schlossen werden. Die traurige Seite dieser Bündnisse, welche ihnen alle Poesie
der Liebe nimmt, bestreitet unser Verfasser nicht, aber er betont, daß man darum
doch nicht die Sensationsschilderungen des französischen Ehelebens als Spiegel¬
bild der täglichen Wahrheit annehmen dürfe. Die Familien in Frankreich seien
nicht schlechter als anderswo, der klare Kopf, der überwiegende Verstand, welcher
die französische Frau vermocht, eine Vernunftheirath zu schließen, läßt sie auch
später das Beste daraus machen; dazu kommt die Unmöglichkeit der Scheidung
einer katholischen Ehe, so daß nur äußerliche Trennung, nie Wiederver-
heirathung möglich wäre und schließlich die gemeinsame Liebe zu den Kindern.,

Man kann dieser Auffassung Pre'post-Paradol's im Allgemeinen beistim¬
men, ohne sie doch als erschöpfend anzunehmen. Gewiß zeichnet sich die
Französin durch rasche Auffassungsgabe und einen offenen Kopf für Geschäfte
aus; wett öfter, als es in England oder Deutschland der Fall ist, führt die


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_121754/477>, abgerufen am 24.08.2024.