Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

man kaum als Gallikaner gelten lassen, wenn sie sich auch gegen die jetzt zu
Tage tretenden letzten Consequenzen des Romanismus verwahren. In dem¬
selben Maße, als diese conservativen Kreise sich den katholischen Interessen hin¬
geben, betrachten die revolutionäre und die demokratische Partei im Großen
wieder wie früher die Kirche als ihren bittersten Feind. Der Voltairianismus
ist umgeschlagen in Positivismus und Unglauben, es ist unter den Demokraten
herkömmlich geworden, durch ihren letzten Willen sich die religiösen Ceremonien
zu verbitten, welche in katholischen Ländern für so wichtig gehalten werden.
Trotz ihres moralischen und materiellen Fortschritts kommt daher die Kirche
der Revolution gegenüber in größere Gefahr, als sie seit 1793 gewesen ist.
Die gemäßigten ihrer Gegner wollen sie vom Staate trennen und sich selbst
überlassen, die Radicalen aber wollen ihr nicht blos ihr Eigenthum nehmen,
sondern sie auch möglichst unterdrücken, wenigstens unter argwöhnische Ueber-
wachung stellen.

Welche Einwirkungen das Concil auf die katholische Welt Frankreich's
haben wird, bleibt abzuwarten; die Erregung hat übrigens in neuester Zeit,
namentlich durch die Fehde Dupcmloup's mit Veuillot eine ziemlich lebhafte
Gestalt angenommen und die letzten Reste gallikanischer Selbständigkeit ver¬
suchen sich gegen die Tendenzen des Bischofs von Nismes zu wahren, keine
der beiden Parteien aber betrachtet das Concil so wie der Kaiser es in seiner
Eröffnungsrede zu thun affectirt. Auf einen tiefgreifenden Wechsel in der
Form des Gottesdienstes wird man schwerlich rechnen dürfen, weil theologi¬
sche Fragen das große Publicum nicht entfernt in dem Maaße interessiren wie
in Deutschland, die Religion vielmehr in allgemeinen Gefühlen, Tendenzen
und Gebräuchen besteht als in klarer und fester Zustimmung szu gewissen
Glaubensgrundsätzen.

In Bezug auf Paris widerlegt Pre'post-Paradol die Ansicht, daß Paris
überwiegend Vergnügensort sei, während es allerdings die wirkliche Haupt¬
stadt und den Mittelpunkt Vergnügungssüchtiger aus allen Theilen der
Welt bilde.

Was das Pariser Vergnügen auszeichne und glauben mache, daß es
jede andere Form des Lebens verschlungen habe, sei der Umstand, daß es
einerseits so öffentlich, andererseits so durchwebt mit intellectuellen und künst¬
lerischen Bestrebungen wie nirgendwo sonst sich darbiete. Indeß das wahre
Paris müsse anderswo als im leichtlebigen kosmopolitischen Genusse gesucht wer¬
den, es liege auch ebensowenig in der vielfach idealisirten Arbeiterwalt, sondern
in der Bourgeoisie, welche viel aufgeklärter als als ihre provinzielle Schwester,
thätig, wirthschaftlich, intelligent, vorwärtsschreitend und gemäßigt, nur oft
etwas zaghaft sei, gleichsam eine moralische Reserve des nationalen Ver¬
standes und Geistes. In der Pariser Bourgeoisie erblicke man auch Vorzugs--


man kaum als Gallikaner gelten lassen, wenn sie sich auch gegen die jetzt zu
Tage tretenden letzten Consequenzen des Romanismus verwahren. In dem¬
selben Maße, als diese conservativen Kreise sich den katholischen Interessen hin¬
geben, betrachten die revolutionäre und die demokratische Partei im Großen
wieder wie früher die Kirche als ihren bittersten Feind. Der Voltairianismus
ist umgeschlagen in Positivismus und Unglauben, es ist unter den Demokraten
herkömmlich geworden, durch ihren letzten Willen sich die religiösen Ceremonien
zu verbitten, welche in katholischen Ländern für so wichtig gehalten werden.
Trotz ihres moralischen und materiellen Fortschritts kommt daher die Kirche
der Revolution gegenüber in größere Gefahr, als sie seit 1793 gewesen ist.
Die gemäßigten ihrer Gegner wollen sie vom Staate trennen und sich selbst
überlassen, die Radicalen aber wollen ihr nicht blos ihr Eigenthum nehmen,
sondern sie auch möglichst unterdrücken, wenigstens unter argwöhnische Ueber-
wachung stellen.

Welche Einwirkungen das Concil auf die katholische Welt Frankreich's
haben wird, bleibt abzuwarten; die Erregung hat übrigens in neuester Zeit,
namentlich durch die Fehde Dupcmloup's mit Veuillot eine ziemlich lebhafte
Gestalt angenommen und die letzten Reste gallikanischer Selbständigkeit ver¬
suchen sich gegen die Tendenzen des Bischofs von Nismes zu wahren, keine
der beiden Parteien aber betrachtet das Concil so wie der Kaiser es in seiner
Eröffnungsrede zu thun affectirt. Auf einen tiefgreifenden Wechsel in der
Form des Gottesdienstes wird man schwerlich rechnen dürfen, weil theologi¬
sche Fragen das große Publicum nicht entfernt in dem Maaße interessiren wie
in Deutschland, die Religion vielmehr in allgemeinen Gefühlen, Tendenzen
und Gebräuchen besteht als in klarer und fester Zustimmung szu gewissen
Glaubensgrundsätzen.

In Bezug auf Paris widerlegt Pre'post-Paradol die Ansicht, daß Paris
überwiegend Vergnügensort sei, während es allerdings die wirkliche Haupt¬
stadt und den Mittelpunkt Vergnügungssüchtiger aus allen Theilen der
Welt bilde.

Was das Pariser Vergnügen auszeichne und glauben mache, daß es
jede andere Form des Lebens verschlungen habe, sei der Umstand, daß es
einerseits so öffentlich, andererseits so durchwebt mit intellectuellen und künst¬
lerischen Bestrebungen wie nirgendwo sonst sich darbiete. Indeß das wahre
Paris müsse anderswo als im leichtlebigen kosmopolitischen Genusse gesucht wer¬
den, es liege auch ebensowenig in der vielfach idealisirten Arbeiterwalt, sondern
in der Bourgeoisie, welche viel aufgeklärter als als ihre provinzielle Schwester,
thätig, wirthschaftlich, intelligent, vorwärtsschreitend und gemäßigt, nur oft
etwas zaghaft sei, gleichsam eine moralische Reserve des nationalen Ver¬
standes und Geistes. In der Pariser Bourgeoisie erblicke man auch Vorzugs--


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0476" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/122231"/>
          <p xml:id="ID_1347" prev="#ID_1346"> man kaum als Gallikaner gelten lassen, wenn sie sich auch gegen die jetzt zu<lb/>
Tage tretenden letzten Consequenzen des Romanismus verwahren. In dem¬<lb/>
selben Maße, als diese conservativen Kreise sich den katholischen Interessen hin¬<lb/>
geben, betrachten die revolutionäre und die demokratische Partei im Großen<lb/>
wieder wie früher die Kirche als ihren bittersten Feind. Der Voltairianismus<lb/>
ist umgeschlagen in Positivismus und Unglauben, es ist unter den Demokraten<lb/>
herkömmlich geworden, durch ihren letzten Willen sich die religiösen Ceremonien<lb/>
zu verbitten, welche in katholischen Ländern für so wichtig gehalten werden.<lb/>
Trotz ihres moralischen und materiellen Fortschritts kommt daher die Kirche<lb/>
der Revolution gegenüber in größere Gefahr, als sie seit 1793 gewesen ist.<lb/>
Die gemäßigten ihrer Gegner wollen sie vom Staate trennen und sich selbst<lb/>
überlassen, die Radicalen aber wollen ihr nicht blos ihr Eigenthum nehmen,<lb/>
sondern sie auch möglichst unterdrücken, wenigstens unter argwöhnische Ueber-<lb/>
wachung stellen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1348"> Welche Einwirkungen das Concil auf die katholische Welt Frankreich's<lb/>
haben wird, bleibt abzuwarten; die Erregung hat übrigens in neuester Zeit,<lb/>
namentlich durch die Fehde Dupcmloup's mit Veuillot eine ziemlich lebhafte<lb/>
Gestalt angenommen und die letzten Reste gallikanischer Selbständigkeit ver¬<lb/>
suchen sich gegen die Tendenzen des Bischofs von Nismes zu wahren, keine<lb/>
der beiden Parteien aber betrachtet das Concil so wie der Kaiser es in seiner<lb/>
Eröffnungsrede zu thun affectirt. Auf einen tiefgreifenden Wechsel in der<lb/>
Form des Gottesdienstes wird man schwerlich rechnen dürfen, weil theologi¬<lb/>
sche Fragen das große Publicum nicht entfernt in dem Maaße interessiren wie<lb/>
in Deutschland, die Religion vielmehr in allgemeinen Gefühlen, Tendenzen<lb/>
und Gebräuchen besteht als in klarer und fester Zustimmung szu gewissen<lb/>
Glaubensgrundsätzen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1349"> In Bezug auf Paris widerlegt Pre'post-Paradol die Ansicht, daß Paris<lb/>
überwiegend Vergnügensort sei, während es allerdings die wirkliche Haupt¬<lb/>
stadt und den Mittelpunkt Vergnügungssüchtiger aus allen Theilen der<lb/>
Welt bilde.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1350" next="#ID_1351"> Was das Pariser Vergnügen auszeichne und glauben mache, daß es<lb/>
jede andere Form des Lebens verschlungen habe, sei der Umstand, daß es<lb/>
einerseits so öffentlich, andererseits so durchwebt mit intellectuellen und künst¬<lb/>
lerischen Bestrebungen wie nirgendwo sonst sich darbiete. Indeß das wahre<lb/>
Paris müsse anderswo als im leichtlebigen kosmopolitischen Genusse gesucht wer¬<lb/>
den, es liege auch ebensowenig in der vielfach idealisirten Arbeiterwalt, sondern<lb/>
in der Bourgeoisie, welche viel aufgeklärter als als ihre provinzielle Schwester,<lb/>
thätig, wirthschaftlich, intelligent, vorwärtsschreitend und gemäßigt, nur oft<lb/>
etwas zaghaft sei, gleichsam eine moralische Reserve des nationalen Ver¬<lb/>
standes und Geistes. In der Pariser Bourgeoisie erblicke man auch Vorzugs--</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0476] man kaum als Gallikaner gelten lassen, wenn sie sich auch gegen die jetzt zu Tage tretenden letzten Consequenzen des Romanismus verwahren. In dem¬ selben Maße, als diese conservativen Kreise sich den katholischen Interessen hin¬ geben, betrachten die revolutionäre und die demokratische Partei im Großen wieder wie früher die Kirche als ihren bittersten Feind. Der Voltairianismus ist umgeschlagen in Positivismus und Unglauben, es ist unter den Demokraten herkömmlich geworden, durch ihren letzten Willen sich die religiösen Ceremonien zu verbitten, welche in katholischen Ländern für so wichtig gehalten werden. Trotz ihres moralischen und materiellen Fortschritts kommt daher die Kirche der Revolution gegenüber in größere Gefahr, als sie seit 1793 gewesen ist. Die gemäßigten ihrer Gegner wollen sie vom Staate trennen und sich selbst überlassen, die Radicalen aber wollen ihr nicht blos ihr Eigenthum nehmen, sondern sie auch möglichst unterdrücken, wenigstens unter argwöhnische Ueber- wachung stellen. Welche Einwirkungen das Concil auf die katholische Welt Frankreich's haben wird, bleibt abzuwarten; die Erregung hat übrigens in neuester Zeit, namentlich durch die Fehde Dupcmloup's mit Veuillot eine ziemlich lebhafte Gestalt angenommen und die letzten Reste gallikanischer Selbständigkeit ver¬ suchen sich gegen die Tendenzen des Bischofs von Nismes zu wahren, keine der beiden Parteien aber betrachtet das Concil so wie der Kaiser es in seiner Eröffnungsrede zu thun affectirt. Auf einen tiefgreifenden Wechsel in der Form des Gottesdienstes wird man schwerlich rechnen dürfen, weil theologi¬ sche Fragen das große Publicum nicht entfernt in dem Maaße interessiren wie in Deutschland, die Religion vielmehr in allgemeinen Gefühlen, Tendenzen und Gebräuchen besteht als in klarer und fester Zustimmung szu gewissen Glaubensgrundsätzen. In Bezug auf Paris widerlegt Pre'post-Paradol die Ansicht, daß Paris überwiegend Vergnügensort sei, während es allerdings die wirkliche Haupt¬ stadt und den Mittelpunkt Vergnügungssüchtiger aus allen Theilen der Welt bilde. Was das Pariser Vergnügen auszeichne und glauben mache, daß es jede andere Form des Lebens verschlungen habe, sei der Umstand, daß es einerseits so öffentlich, andererseits so durchwebt mit intellectuellen und künst¬ lerischen Bestrebungen wie nirgendwo sonst sich darbiete. Indeß das wahre Paris müsse anderswo als im leichtlebigen kosmopolitischen Genusse gesucht wer¬ den, es liege auch ebensowenig in der vielfach idealisirten Arbeiterwalt, sondern in der Bourgeoisie, welche viel aufgeklärter als als ihre provinzielle Schwester, thätig, wirthschaftlich, intelligent, vorwärtsschreitend und gemäßigt, nur oft etwas zaghaft sei, gleichsam eine moralische Reserve des nationalen Ver¬ standes und Geistes. In der Pariser Bourgeoisie erblicke man auch Vorzugs--

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_121754
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_121754/476
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_121754/476>, abgerufen am 24.08.2024.