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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. II. Band.

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und großartig aufstrebende Kraft der Schiller'schen Poesie darstellen sollte.
In jenem Gedichte verkündet Herder nach seiner Weise ein Liebesevangelium,
das ihm durch die Nymphe Parthenope offenbart wird. Er feiert die be¬
seelende Liebe, die, in alle Tiefen hinab, in alle Höhen hinauf dringend, aus
allem Geschaffenen mit erquickenden und erleuchtenden Strahlen wiederglänzt,
die alle Creatur mit unzerreißbarem Bande umschlingt, die auch dem
Menschenherzen innewohnt, es sicher leitet und ihm für den verlorenen Frie¬
den der Unschuld Ersatz bietet. Das Gedicht ist ein Nachklang der glück¬
seligen, kaum durch leise Wehmuth getrübten Stimmung, die ihn während
seines neapolitanischen Aufenthaltes, in den ersten Wochen des Jahres 1789,
erfüllte. Der Anblick Neapel's und der umgebenden Natur überwältigte ihn
mit einem Entzücken, wie es ihn während der übrigen Zeit seiner italieni¬
schen Reise nur allzuselten beglückte. Aus dieser liebestrunkenen Stimmung
entsprang das Gedicht. Aber dem, was der Mensch so voll und ganz em¬
pfunden, vermag der Künstler nicht die volle und ganze Gestalt zu geben:
die formenbildende Kraft läßt ihn im Stich. Auch hier, wie fast überall in
Herder's Dichtungen, entbehrt die Darstellung der festen Umrisse; sie ist
nicht zu voller Klarheit gediehen; ein Halbdunkel drängt sich störend hinein,
das der Dichter nicht etwa mit Absicht über seinen Stoff verbreitet, sondern
das. gegen seinen Willen, aus seiner unsicheren Behandlung des Gemäldes
entsteht. Auch hier mag man in Mitgefühl und Ahnung erfassen, was der
Dichter sagt und zeigt; aber man sieht und hört es nicht deutlich genug-
Unsere Phantasie wird von ihm zwar in Bewegung gesetzt, jedoch nicht sicher
gelenkt und beherrscht. Aber Lebenswärme, wie Friedrich Schlegel's Vor¬
wurf lautet, wird hier wahrlich nicht vermißt. Sie ist vielmehr durch das
Ganze reich ergossen und athmet aus dem süßen Wohllaut der, trotz einzel¬
nen Härten, sanft dahinwallenden Verse. Herder hat die ottavs riirw nie
wieder mit gleichem Glück, wie hier, gebraucht. Als er diese Verse bildete,
schwebten ihm unbewußt Goethe's Stanzen aus den Geheimnissen im Sinne;
der erste Vers:


Ermüdet von des Tages schwerem Brande,

muß uns den Anfang des Goethe'schen Gedichts zurückrufen:


Ermüdet von des Tages langer Neise.

Ueberhaupt mag die "Parthenope" als ein Herder'sches Gegenstück zur Goethe-
scher "Zueignung" gelten, die der Dichter ja ursprünglich zur Einleitung der
"Geheimnisse" bestimmt hatte, und die während der Zeit seines innigsten
Zusammenlebens mit Herder entstanden war*).



-) Wer Herder's Parthenope kennen lernen will, muß sie im Musen-Almanach für 1796
aufsuchen. Das Gedicht findet sich freilich auch in der Sammlung von Herder's Poesien

und großartig aufstrebende Kraft der Schiller'schen Poesie darstellen sollte.
In jenem Gedichte verkündet Herder nach seiner Weise ein Liebesevangelium,
das ihm durch die Nymphe Parthenope offenbart wird. Er feiert die be¬
seelende Liebe, die, in alle Tiefen hinab, in alle Höhen hinauf dringend, aus
allem Geschaffenen mit erquickenden und erleuchtenden Strahlen wiederglänzt,
die alle Creatur mit unzerreißbarem Bande umschlingt, die auch dem
Menschenherzen innewohnt, es sicher leitet und ihm für den verlorenen Frie¬
den der Unschuld Ersatz bietet. Das Gedicht ist ein Nachklang der glück¬
seligen, kaum durch leise Wehmuth getrübten Stimmung, die ihn während
seines neapolitanischen Aufenthaltes, in den ersten Wochen des Jahres 1789,
erfüllte. Der Anblick Neapel's und der umgebenden Natur überwältigte ihn
mit einem Entzücken, wie es ihn während der übrigen Zeit seiner italieni¬
schen Reise nur allzuselten beglückte. Aus dieser liebestrunkenen Stimmung
entsprang das Gedicht. Aber dem, was der Mensch so voll und ganz em¬
pfunden, vermag der Künstler nicht die volle und ganze Gestalt zu geben:
die formenbildende Kraft läßt ihn im Stich. Auch hier, wie fast überall in
Herder's Dichtungen, entbehrt die Darstellung der festen Umrisse; sie ist
nicht zu voller Klarheit gediehen; ein Halbdunkel drängt sich störend hinein,
das der Dichter nicht etwa mit Absicht über seinen Stoff verbreitet, sondern
das. gegen seinen Willen, aus seiner unsicheren Behandlung des Gemäldes
entsteht. Auch hier mag man in Mitgefühl und Ahnung erfassen, was der
Dichter sagt und zeigt; aber man sieht und hört es nicht deutlich genug-
Unsere Phantasie wird von ihm zwar in Bewegung gesetzt, jedoch nicht sicher
gelenkt und beherrscht. Aber Lebenswärme, wie Friedrich Schlegel's Vor¬
wurf lautet, wird hier wahrlich nicht vermißt. Sie ist vielmehr durch das
Ganze reich ergossen und athmet aus dem süßen Wohllaut der, trotz einzel¬
nen Härten, sanft dahinwallenden Verse. Herder hat die ottavs riirw nie
wieder mit gleichem Glück, wie hier, gebraucht. Als er diese Verse bildete,
schwebten ihm unbewußt Goethe's Stanzen aus den Geheimnissen im Sinne;
der erste Vers:


Ermüdet von des Tages schwerem Brande,

muß uns den Anfang des Goethe'schen Gedichts zurückrufen:


Ermüdet von des Tages langer Neise.

Ueberhaupt mag die „Parthenope" als ein Herder'sches Gegenstück zur Goethe-
scher „Zueignung" gelten, die der Dichter ja ursprünglich zur Einleitung der
„Geheimnisse" bestimmt hatte, und die während der Zeit seines innigsten
Zusammenlebens mit Herder entstanden war*).



-) Wer Herder's Parthenope kennen lernen will, muß sie im Musen-Almanach für 1796
aufsuchen. Das Gedicht findet sich freilich auch in der Sammlung von Herder's Poesien
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_121754/422>, abgerufen am 22.07.2024.