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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. II. Band.

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tiker, der nur, um seinen Beruf zu dem übernommenen Amte darzuthun, sich
gelegentlich eine strengere Miene gebe. Körner's Vermittelung war wohl¬
gemeint, aber sie sollte nichts fruchten.

Allerdings schienen die ersten persönlichen Berührungen ganz erfreuliche
Verhältnisse für die Zukunft zu verheißen"), Umsomehr jedoch mußte sich
Schlegel überrascht und unangenehm getroffen fühlen, als etwa zehn Wochen
später die Genien hervorbrachen. Man hatte ihn mit diesen unwillkommenen
Gastgeschenken nur allzu verschwenderisch bedacht. Mit Nicolai und Reichardt
theilte er die mißliche Ehre, unter den Beschenkten in erster Reihe zu stehen.

Die gegen Friedrich gerichteten Genien treten zu zwei größeren, leicht
unterscheidbaren Gruppen zusammen. Zu den Distichen der ersten Gruppe
hat nun eben jene verwegene Recension des "Musen-Almanachs" Anlaß und
Stoff geliefert; sie beziehen sich auf einzelne Aeußerungen des Kritikers, die
mit komischer Uebertreibung wiedergegeben werden. Diese Beziehung hat
zuerst Eduard Boas ausgespürt**); aber es gelang ihm nicht, sür alle zu
diesem Kreise gehörenden Epigramme die richtige Deutung zu finden. Auch
die anderen Erklärer, die neben und nach ihm sich mit der Erläuterung der
Xenien befaßten, haben die richtige Spur verfehlt. Es mag daher nicht un¬
ersprießlich sein, die Reihe dieser Distichen noch einmal im Zusammenhange
zu überblicken. --

Mit vernichtenden Schlage sollten die Xenien alles treffen, was in der
Literatur und in den Kreisen des geistigen Lebens innerlich abgestorben, ver¬
altet oder dem Veralten nahe war, und dennoch ein Recht des Daseins und
der Fortdauer, ja der Herrschaft sich anmaßte. Die Kritik, mit den blitzenden
und scharfen Waffen der Poesie versehen, sollte sich hier offenbaren als die Kunst,
"die Scheinlebendigen in der Literatur zu tödten"***). Gestört und auf¬
gescheucht aus ihrer behaglichen Selbstzufriedenheit wurden alle die treuen
Anhänger des Herkömmlichen, die so bequem auf ihren breiten Pfaden einher¬
wandelten und diese Pfade als die einzig rechten anerkannt wissen wollten;
aus dem Felde geschlagen wurden die tapferen Führer der Mittelmäßigkeit,
die auf ein verjährtes Ansehen pochten und denen die Natur einen instinkti¬
ven Widerwillen gegen viles genialisch Große zum unveräußerlichen Erbtheil
angewiesen. Die Teniendichter wandten sich gegen Alle, die, mit kurzsichti¬
gen Eiser, die wunderbaren Erscheinungen der Zeit verkennend, dem macht-





*) Schiller an Goethe 8. August: "Schlegel's Bruder ist hier; er macht einen recht guten
Eindruck und verspricht viel/'
Vgl. Schiller und Goethe im Xenienkcimvf 1. 1ö4. -- Da nur wenigen Lesern
der Musen-Almanach für 1797 zur Hand sein möchte, so bediene ich mich im Folgenden, bei
Anführung der einzelnen Xenien, der von Boas gebrauchten Zahlen.
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-") So definirr Friedrich Schlegel das Wesen der Kritik. Charakterist, u, Kritik. 1, 241.

tiker, der nur, um seinen Beruf zu dem übernommenen Amte darzuthun, sich
gelegentlich eine strengere Miene gebe. Körner's Vermittelung war wohl¬
gemeint, aber sie sollte nichts fruchten.

Allerdings schienen die ersten persönlichen Berührungen ganz erfreuliche
Verhältnisse für die Zukunft zu verheißen"), Umsomehr jedoch mußte sich
Schlegel überrascht und unangenehm getroffen fühlen, als etwa zehn Wochen
später die Genien hervorbrachen. Man hatte ihn mit diesen unwillkommenen
Gastgeschenken nur allzu verschwenderisch bedacht. Mit Nicolai und Reichardt
theilte er die mißliche Ehre, unter den Beschenkten in erster Reihe zu stehen.

Die gegen Friedrich gerichteten Genien treten zu zwei größeren, leicht
unterscheidbaren Gruppen zusammen. Zu den Distichen der ersten Gruppe
hat nun eben jene verwegene Recension des „Musen-Almanachs" Anlaß und
Stoff geliefert; sie beziehen sich auf einzelne Aeußerungen des Kritikers, die
mit komischer Uebertreibung wiedergegeben werden. Diese Beziehung hat
zuerst Eduard Boas ausgespürt**); aber es gelang ihm nicht, sür alle zu
diesem Kreise gehörenden Epigramme die richtige Deutung zu finden. Auch
die anderen Erklärer, die neben und nach ihm sich mit der Erläuterung der
Xenien befaßten, haben die richtige Spur verfehlt. Es mag daher nicht un¬
ersprießlich sein, die Reihe dieser Distichen noch einmal im Zusammenhange
zu überblicken. —

Mit vernichtenden Schlage sollten die Xenien alles treffen, was in der
Literatur und in den Kreisen des geistigen Lebens innerlich abgestorben, ver¬
altet oder dem Veralten nahe war, und dennoch ein Recht des Daseins und
der Fortdauer, ja der Herrschaft sich anmaßte. Die Kritik, mit den blitzenden
und scharfen Waffen der Poesie versehen, sollte sich hier offenbaren als die Kunst,
„die Scheinlebendigen in der Literatur zu tödten"***). Gestört und auf¬
gescheucht aus ihrer behaglichen Selbstzufriedenheit wurden alle die treuen
Anhänger des Herkömmlichen, die so bequem auf ihren breiten Pfaden einher¬
wandelten und diese Pfade als die einzig rechten anerkannt wissen wollten;
aus dem Felde geschlagen wurden die tapferen Führer der Mittelmäßigkeit,
die auf ein verjährtes Ansehen pochten und denen die Natur einen instinkti¬
ven Widerwillen gegen viles genialisch Große zum unveräußerlichen Erbtheil
angewiesen. Die Teniendichter wandten sich gegen Alle, die, mit kurzsichti¬
gen Eiser, die wunderbaren Erscheinungen der Zeit verkennend, dem macht-





*) Schiller an Goethe 8. August: „Schlegel's Bruder ist hier; er macht einen recht guten
Eindruck und verspricht viel/'
Vgl. Schiller und Goethe im Xenienkcimvf 1. 1ö4. — Da nur wenigen Lesern
der Musen-Almanach für 1797 zur Hand sein möchte, so bediene ich mich im Folgenden, bei
Anführung der einzelnen Xenien, der von Boas gebrauchten Zahlen.
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-") So definirr Friedrich Schlegel das Wesen der Kritik. Charakterist, u, Kritik. 1, 241.
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[0414] tiker, der nur, um seinen Beruf zu dem übernommenen Amte darzuthun, sich gelegentlich eine strengere Miene gebe. Körner's Vermittelung war wohl¬ gemeint, aber sie sollte nichts fruchten. Allerdings schienen die ersten persönlichen Berührungen ganz erfreuliche Verhältnisse für die Zukunft zu verheißen"), Umsomehr jedoch mußte sich Schlegel überrascht und unangenehm getroffen fühlen, als etwa zehn Wochen später die Genien hervorbrachen. Man hatte ihn mit diesen unwillkommenen Gastgeschenken nur allzu verschwenderisch bedacht. Mit Nicolai und Reichardt theilte er die mißliche Ehre, unter den Beschenkten in erster Reihe zu stehen. Die gegen Friedrich gerichteten Genien treten zu zwei größeren, leicht unterscheidbaren Gruppen zusammen. Zu den Distichen der ersten Gruppe hat nun eben jene verwegene Recension des „Musen-Almanachs" Anlaß und Stoff geliefert; sie beziehen sich auf einzelne Aeußerungen des Kritikers, die mit komischer Uebertreibung wiedergegeben werden. Diese Beziehung hat zuerst Eduard Boas ausgespürt**); aber es gelang ihm nicht, sür alle zu diesem Kreise gehörenden Epigramme die richtige Deutung zu finden. Auch die anderen Erklärer, die neben und nach ihm sich mit der Erläuterung der Xenien befaßten, haben die richtige Spur verfehlt. Es mag daher nicht un¬ ersprießlich sein, die Reihe dieser Distichen noch einmal im Zusammenhange zu überblicken. — Mit vernichtenden Schlage sollten die Xenien alles treffen, was in der Literatur und in den Kreisen des geistigen Lebens innerlich abgestorben, ver¬ altet oder dem Veralten nahe war, und dennoch ein Recht des Daseins und der Fortdauer, ja der Herrschaft sich anmaßte. Die Kritik, mit den blitzenden und scharfen Waffen der Poesie versehen, sollte sich hier offenbaren als die Kunst, „die Scheinlebendigen in der Literatur zu tödten"***). Gestört und auf¬ gescheucht aus ihrer behaglichen Selbstzufriedenheit wurden alle die treuen Anhänger des Herkömmlichen, die so bequem auf ihren breiten Pfaden einher¬ wandelten und diese Pfade als die einzig rechten anerkannt wissen wollten; aus dem Felde geschlagen wurden die tapferen Führer der Mittelmäßigkeit, die auf ein verjährtes Ansehen pochten und denen die Natur einen instinkti¬ ven Widerwillen gegen viles genialisch Große zum unveräußerlichen Erbtheil angewiesen. Die Teniendichter wandten sich gegen Alle, die, mit kurzsichti¬ gen Eiser, die wunderbaren Erscheinungen der Zeit verkennend, dem macht- *) Schiller an Goethe 8. August: „Schlegel's Bruder ist hier; er macht einen recht guten Eindruck und verspricht viel/' Vgl. Schiller und Goethe im Xenienkcimvf 1. 1ö4. — Da nur wenigen Lesern der Musen-Almanach für 1797 zur Hand sein möchte, so bediene ich mich im Folgenden, bei Anführung der einzelnen Xenien, der von Boas gebrauchten Zahlen. > -") So definirr Friedrich Schlegel das Wesen der Kritik. Charakterist, u, Kritik. 1, 241.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_121754/414>, abgerufen am 24.08.2024.