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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. II. Band.

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stand haben? Uns dünkt, hiergegen läßt sich vielerlei einwenden, vor allem
die Frage, weshalb man die Nächstliegende Deutung umgeht, daß in diesem
Knäbchen Niemand anders als der junge Täufer zu suchen sei? Dabei darf
freilich nicht vergessen werden, daß bei dem Mangel der Heiligenscheine die
Idealfiguren hier nicht so kenntlich sind wie anderwärts. -- Die rechte Seite
des Bildes (vom Beschauer) nimmt die schöne Frauengruppe ein: das Mäd¬
chen an vorderster Stelle im Beten begriffen, die Hausfrau der Madonna
zunächst und im Schatten ihrer Gestalt. Vortrefflich dient die nahe über
den Häuptern der Betenden ansetzende Console der Nische dazu, die Compo-
sition zu unterstützen, deren oberer, Theil durch den Halbbögen den ange¬
messensten Rahmen erhält. Die Statur Marias sodann steht vollkommen im
Verhältniß zu dem Körper des Jesusknaben, ihre vortretende linke Hüfte
verhindert, daß das Kind durch die Arme hinabgleitet. -- Einige Kleinig¬
keiten abgerechnet befindet sich die Tafel in untadelhaftem Zustande; leider
aber haben Abreibung und Retouche, so mäßig sie an sich sind, gerade Stellen
betroffen, wo sie die empfindlichste Entstellung verursachen. So ist Stirn und
Haar der Jungfrau lädirt, die Schatten um Augen und Nase neu über¬
gangen, Kopf und Achsel des Christuskindes in den dunklen Partien auf¬
gefrischt, das Ohr desselben aufs äußerste verstümmelt. Auch Mund und
Kinn des knieenden Mädchens rechts sind nicht unberührt geblieben. Alles
Andere aber ist durchaus genuin.

Wir sehen in diesem Meisterwerke die Kunst Johann's van Eyck aus¬
gereift unter dem Einfluß der Fortschritte des 15. und 16. Jahrhunderts.
Es verbindet den Realismus der alten Handwerksleistungen mit der harmo¬
nischen Einheit von Aufbau und Färbung, die den späteren Künstlern eigen
wird. Dürer's herbe Strenge und tiefe Kenntniß besitzt Holbein nicht, aber
er entzückt uns durch die stille Weihe seiner Persönlichkeiten und ihren sanften
Ausdruck, durch die Weichheit seiner Modellirung und die Fülle seiner Töne.
Obgleich er bis zu einem Grade durchführt, der kaum eine Steigerung zu¬
läßt, so behält doch Alles körperhafte Masse; Licht und .Schatten sind aufs
wirkungsvollste vertheilt, das Ganze mit hatten Auftrag und ungemeiner
Sauberkeit in Guß gebracht. Die Sonne Italiens liegt auf dem Bilde,
man glaubt vor dem Meisterstück eines zweiten Lionardo zu stehen. Eine
kleine Sonderbarkeit ist deshalb umso auffälliger. Man kann das Bild
nicht betrachten, ohne das Geschick, womit die Verkürzungen der Hände ge¬
zeichnet sind, und die liebevolle Durchbildung zu bewundern: gleichwohl sind
an dem Händchen, welches das aus dem Teppich stehende nackte Kind dem
hinter ihm knieenden Knaben auf den Aermelvorstoß legt, in übernatürlicher
Weise 3 Finger statt 4 sichtbar. Sonst ist die Behandlung normal. Maria's
Mantel hat bräunliches Roth, die Tunika blau mit rother Schärpe, welche


stand haben? Uns dünkt, hiergegen läßt sich vielerlei einwenden, vor allem
die Frage, weshalb man die Nächstliegende Deutung umgeht, daß in diesem
Knäbchen Niemand anders als der junge Täufer zu suchen sei? Dabei darf
freilich nicht vergessen werden, daß bei dem Mangel der Heiligenscheine die
Idealfiguren hier nicht so kenntlich sind wie anderwärts. — Die rechte Seite
des Bildes (vom Beschauer) nimmt die schöne Frauengruppe ein: das Mäd¬
chen an vorderster Stelle im Beten begriffen, die Hausfrau der Madonna
zunächst und im Schatten ihrer Gestalt. Vortrefflich dient die nahe über
den Häuptern der Betenden ansetzende Console der Nische dazu, die Compo-
sition zu unterstützen, deren oberer, Theil durch den Halbbögen den ange¬
messensten Rahmen erhält. Die Statur Marias sodann steht vollkommen im
Verhältniß zu dem Körper des Jesusknaben, ihre vortretende linke Hüfte
verhindert, daß das Kind durch die Arme hinabgleitet. — Einige Kleinig¬
keiten abgerechnet befindet sich die Tafel in untadelhaftem Zustande; leider
aber haben Abreibung und Retouche, so mäßig sie an sich sind, gerade Stellen
betroffen, wo sie die empfindlichste Entstellung verursachen. So ist Stirn und
Haar der Jungfrau lädirt, die Schatten um Augen und Nase neu über¬
gangen, Kopf und Achsel des Christuskindes in den dunklen Partien auf¬
gefrischt, das Ohr desselben aufs äußerste verstümmelt. Auch Mund und
Kinn des knieenden Mädchens rechts sind nicht unberührt geblieben. Alles
Andere aber ist durchaus genuin.

Wir sehen in diesem Meisterwerke die Kunst Johann's van Eyck aus¬
gereift unter dem Einfluß der Fortschritte des 15. und 16. Jahrhunderts.
Es verbindet den Realismus der alten Handwerksleistungen mit der harmo¬
nischen Einheit von Aufbau und Färbung, die den späteren Künstlern eigen
wird. Dürer's herbe Strenge und tiefe Kenntniß besitzt Holbein nicht, aber
er entzückt uns durch die stille Weihe seiner Persönlichkeiten und ihren sanften
Ausdruck, durch die Weichheit seiner Modellirung und die Fülle seiner Töne.
Obgleich er bis zu einem Grade durchführt, der kaum eine Steigerung zu¬
läßt, so behält doch Alles körperhafte Masse; Licht und .Schatten sind aufs
wirkungsvollste vertheilt, das Ganze mit hatten Auftrag und ungemeiner
Sauberkeit in Guß gebracht. Die Sonne Italiens liegt auf dem Bilde,
man glaubt vor dem Meisterstück eines zweiten Lionardo zu stehen. Eine
kleine Sonderbarkeit ist deshalb umso auffälliger. Man kann das Bild
nicht betrachten, ohne das Geschick, womit die Verkürzungen der Hände ge¬
zeichnet sind, und die liebevolle Durchbildung zu bewundern: gleichwohl sind
an dem Händchen, welches das aus dem Teppich stehende nackte Kind dem
hinter ihm knieenden Knaben auf den Aermelvorstoß legt, in übernatürlicher
Weise 3 Finger statt 4 sichtbar. Sonst ist die Behandlung normal. Maria's
Mantel hat bräunliches Roth, die Tunika blau mit rother Schärpe, welche


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_121754/28>, abgerufen am 22.07.2024.