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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. II. Band.

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angetastet worden: Schindung und Retouche macht sich besonders in den
Fleischtheilen des Kinderkopfes bemerklich.

Welchen mächtigen Aufschwung der Künstler wenige Jahre nach Vollen¬
dung dieser kleinen unbedeutenden Sachen nahm, das tritt uns nun in sei¬
ner Maria vor Augen, die im Jahre 1523 für den Bürgermeister von Basel
gemalt ist. Daß wir in dem hier ausgestellten Darmstädter Bilde ein Ori¬
ginal haben, welches geraume Zeit vor dem Dresdener entstanden ist, darf
jetzt wohl nicht mehr als controvers gelten. Die Fragen, über welche noch
beträchtliche Meinungsverschiedenheiten-obwalten, sind 1) ob das Bild von
Darmstadt in Zeichnung, Anordnung und Typen dem Gegenstück in Dresden
überlegen ist und 2) ob das Dresdener Bild eine Replik von Holbein's eigener
Hand oder von einem seiner Schüler oder endlich gar eine spätere Copie sei?

Von mehreren Seiten wird hervorgehoben, daß die Linien der Archi¬
tektur sowie die Gesichter der Madonna und des Kindes, welche auf den
beiden Exemplaren verschieden sind, auf dem Dresdener vorzüglicher seien
als auf dem Darmstädter. Wir unsererseits sind der entgegengesetzten Mei¬
nung, und provociren auf eine Confrontation der Bilder, die ja in Aussicht
gestellt ist, und von der wir überzeugt sind, daß sie uns Recht geben wird.
Der Punkt, welcher die aufmerksamste Erwägung erheischt, ist die Technik.
Je nach dem Urtheil, das hierüber gewonnen wird, steht und sällt die Be¬
hauptung, wonach Holbein der Meister beider Gemälde sein soll. Aber auch
hierbei wird man am besten thun, die directe Vergleichung abzuwarten. --
Ein sehr bemerkenswerther Umstand von allgemeinerem Interesse ist, daß Hol¬
bein just in der Zeit, da die Reformation mit so energischen Schritten ihren
Rundlauf durch Deutschland machte, eine Composition erfand und ausführte,
die in so hohem Grade wie diese gnadenreiche Jungfrau der religiösen Gluth
und Devotion alten Stiles entspricht. All' seine Kunst und seine ganze Ge¬
dankentiefe hat der Meister darangesetzt, die Vorstellung milden Schutzes auf
der einen, anbetender Zuversicht auf der anderen Seite zu veranschaulichen.
In der Nische stehend hat Maria das Kind mit mütterlicher Zärtlichkeit an
sich gedrückt; lächelnd gibt dieses der betenden Familie mit kindlich unbe¬
fangener Geste den Segen; ein Stück des von den Schultern Maria's herab¬
fallenden Mantels ist über die Gestalt des Bürgermeisters Meyer ausge¬
breitet, der kniend mit dem Ausdruck vollster Inbrunst zu der Schützerin
emporblickt; die zum Gebet gefalteten Hände ruhen auf der Schulter des
Sohnes vor ihm, dem er durch diese körperliche Berührung die Stimmung
mitzutheilen scheint, die sein ganzes Wesen durchdrtngt; dieser Knabe wieder
schlingt die Arme um das nackte Kind, das auf dem bunten Teppich steht.
Kann die von manchem Kritiker zugelassene Annahme, wonach dieses letztere
den jüngsten Sprößling des Meyer'schen Hauses vorstellen soll, wirklich Be-


angetastet worden: Schindung und Retouche macht sich besonders in den
Fleischtheilen des Kinderkopfes bemerklich.

Welchen mächtigen Aufschwung der Künstler wenige Jahre nach Vollen¬
dung dieser kleinen unbedeutenden Sachen nahm, das tritt uns nun in sei¬
ner Maria vor Augen, die im Jahre 1523 für den Bürgermeister von Basel
gemalt ist. Daß wir in dem hier ausgestellten Darmstädter Bilde ein Ori¬
ginal haben, welches geraume Zeit vor dem Dresdener entstanden ist, darf
jetzt wohl nicht mehr als controvers gelten. Die Fragen, über welche noch
beträchtliche Meinungsverschiedenheiten-obwalten, sind 1) ob das Bild von
Darmstadt in Zeichnung, Anordnung und Typen dem Gegenstück in Dresden
überlegen ist und 2) ob das Dresdener Bild eine Replik von Holbein's eigener
Hand oder von einem seiner Schüler oder endlich gar eine spätere Copie sei?

Von mehreren Seiten wird hervorgehoben, daß die Linien der Archi¬
tektur sowie die Gesichter der Madonna und des Kindes, welche auf den
beiden Exemplaren verschieden sind, auf dem Dresdener vorzüglicher seien
als auf dem Darmstädter. Wir unsererseits sind der entgegengesetzten Mei¬
nung, und provociren auf eine Confrontation der Bilder, die ja in Aussicht
gestellt ist, und von der wir überzeugt sind, daß sie uns Recht geben wird.
Der Punkt, welcher die aufmerksamste Erwägung erheischt, ist die Technik.
Je nach dem Urtheil, das hierüber gewonnen wird, steht und sällt die Be¬
hauptung, wonach Holbein der Meister beider Gemälde sein soll. Aber auch
hierbei wird man am besten thun, die directe Vergleichung abzuwarten. —
Ein sehr bemerkenswerther Umstand von allgemeinerem Interesse ist, daß Hol¬
bein just in der Zeit, da die Reformation mit so energischen Schritten ihren
Rundlauf durch Deutschland machte, eine Composition erfand und ausführte,
die in so hohem Grade wie diese gnadenreiche Jungfrau der religiösen Gluth
und Devotion alten Stiles entspricht. All' seine Kunst und seine ganze Ge¬
dankentiefe hat der Meister darangesetzt, die Vorstellung milden Schutzes auf
der einen, anbetender Zuversicht auf der anderen Seite zu veranschaulichen.
In der Nische stehend hat Maria das Kind mit mütterlicher Zärtlichkeit an
sich gedrückt; lächelnd gibt dieses der betenden Familie mit kindlich unbe¬
fangener Geste den Segen; ein Stück des von den Schultern Maria's herab¬
fallenden Mantels ist über die Gestalt des Bürgermeisters Meyer ausge¬
breitet, der kniend mit dem Ausdruck vollster Inbrunst zu der Schützerin
emporblickt; die zum Gebet gefalteten Hände ruhen auf der Schulter des
Sohnes vor ihm, dem er durch diese körperliche Berührung die Stimmung
mitzutheilen scheint, die sein ganzes Wesen durchdrtngt; dieser Knabe wieder
schlingt die Arme um das nackte Kind, das auf dem bunten Teppich steht.
Kann die von manchem Kritiker zugelassene Annahme, wonach dieses letztere
den jüngsten Sprößling des Meyer'schen Hauses vorstellen soll, wirklich Be-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_121754/27>, abgerufen am 22.07.2024.