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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. II. Band.

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begriff er auch ihre Grenzen und ihren Gegensatz zu den benachbarten Kunst¬
gebieten, war er sich auch der Eigenthümlichkeiten der letzteren bewußt, blieb
ihm die Natur der Kunst überhaupt, der Vorgang des künstlerischen Schaffens
nicht verborgen. Einsichtsvoll, mit wahrer Weihe schildert er bei Gelegenheit,
wo er von Mozart's Weise zu produciren erzählt, dieselben: "Das bezeichnet
die Werke schöpferischer Naturen als solche, daß auch in demjenigen, was nur als
die Erfüllung eines gebotenen Gesetzes erscheint, sich die Freiheit einer
selbständigen Individualität offenbart. Sowie jede Erscheinung die indivi¬
duelle Darstellung des allgemeinen Gesetzes ist, so trägt die Seele des schaffen¬
den Künstlers dieses allgemeine Gesetz des Hervorbringens in sich, nicht als
ein erkanntes, angelerntes, sondern als ein eingeborenes, von seiner indivi¬
duellen Natur ganz durchdrungenes und nur durch diese wirksames: seine
Individualität ist das Medium, durch welches jenes Gesetz lebendig und pro-
ductiv wird. Wahrheit, welche allein der Ausfluß der ewigen Naturgesetze
sein kann, und Freiheit, welche das Wesen der Individualität ausmacht, sind
in seinen Schöpfungen unlösbar verschmolzen." "Das ist das eigentliche
Arbeiten des Künstlers," fährt er fort, "wenn er alle geistigen Kräfte im freien
Spiel sich entfalten läßt, um sie auf den einen Punkt hin zu concentriren
und nie die einzelne Kraft allein und einseitig anzuspannen, sondern alle
gemeinsam dem gemeinsamen Ziele zuzulenken. Diese Thätigkeit in jedem
Moment als den Ausfluß der vollendeten Kraft und Gesundheit der gesammten
Organisation zu empfinden ist nur dem Künstler verliehen; es ist sein höchster
Genuß, eine wahre Beseligung, wie ja in allem menschlichen Thun die That
die höchste Befriedigung gewährt und nicht ihr Werk. Wäre es möglich,
den Bewegungen der künstlerischen Natur im Schaffen mit geistigem Auge
zu folgen, wie das leibliche Auge den Bewegungen eines schönen, kräftigen,
ausgebildeten Körpers mit Entzücken nachgeht, ein solcher Genuß würde
den weit überbieten, welchen das Auffassen des fertigen Kunstwerks ge¬
währen kann."

Nicht minder durchdacht, unwiderlegt und unwiderleglich ist Jahn's
Urtheil über die Stellung der Musik zur Poesie, welches er sowohl in seinem
Mozart, wie in der köstlichen Abhandlung über Wagners Lohengrin, diesem
Muster durchaus unebener und doch vernichtender Kritik ausspricht. Auch
hier geht er zunächst vom musikalischen Standpunkte aus, erweist nach Schil¬
derung des Wesens der musikalischen Kunst die Versündigung gegen dasselbe,
"wenn man fordert, daß sie aufgeben soll, wonach sie ihrer Natur nach streben
muß, die ausführliche reiche Darstellung der Empfindung in ihrem Bleiben
und Beharren." Er würde aber seinen Erweis nicht für vollkommen erachtet
haben, wenn er nicht dem gleichen Probleme in den andern Künsten nach¬
geforscht, nicht seine Berechtigung auf einen allgemeinen Boden gestellt hätte.


begriff er auch ihre Grenzen und ihren Gegensatz zu den benachbarten Kunst¬
gebieten, war er sich auch der Eigenthümlichkeiten der letzteren bewußt, blieb
ihm die Natur der Kunst überhaupt, der Vorgang des künstlerischen Schaffens
nicht verborgen. Einsichtsvoll, mit wahrer Weihe schildert er bei Gelegenheit,
wo er von Mozart's Weise zu produciren erzählt, dieselben: „Das bezeichnet
die Werke schöpferischer Naturen als solche, daß auch in demjenigen, was nur als
die Erfüllung eines gebotenen Gesetzes erscheint, sich die Freiheit einer
selbständigen Individualität offenbart. Sowie jede Erscheinung die indivi¬
duelle Darstellung des allgemeinen Gesetzes ist, so trägt die Seele des schaffen¬
den Künstlers dieses allgemeine Gesetz des Hervorbringens in sich, nicht als
ein erkanntes, angelerntes, sondern als ein eingeborenes, von seiner indivi¬
duellen Natur ganz durchdrungenes und nur durch diese wirksames: seine
Individualität ist das Medium, durch welches jenes Gesetz lebendig und pro-
ductiv wird. Wahrheit, welche allein der Ausfluß der ewigen Naturgesetze
sein kann, und Freiheit, welche das Wesen der Individualität ausmacht, sind
in seinen Schöpfungen unlösbar verschmolzen." „Das ist das eigentliche
Arbeiten des Künstlers," fährt er fort, „wenn er alle geistigen Kräfte im freien
Spiel sich entfalten läßt, um sie auf den einen Punkt hin zu concentriren
und nie die einzelne Kraft allein und einseitig anzuspannen, sondern alle
gemeinsam dem gemeinsamen Ziele zuzulenken. Diese Thätigkeit in jedem
Moment als den Ausfluß der vollendeten Kraft und Gesundheit der gesammten
Organisation zu empfinden ist nur dem Künstler verliehen; es ist sein höchster
Genuß, eine wahre Beseligung, wie ja in allem menschlichen Thun die That
die höchste Befriedigung gewährt und nicht ihr Werk. Wäre es möglich,
den Bewegungen der künstlerischen Natur im Schaffen mit geistigem Auge
zu folgen, wie das leibliche Auge den Bewegungen eines schönen, kräftigen,
ausgebildeten Körpers mit Entzücken nachgeht, ein solcher Genuß würde
den weit überbieten, welchen das Auffassen des fertigen Kunstwerks ge¬
währen kann."

Nicht minder durchdacht, unwiderlegt und unwiderleglich ist Jahn's
Urtheil über die Stellung der Musik zur Poesie, welches er sowohl in seinem
Mozart, wie in der köstlichen Abhandlung über Wagners Lohengrin, diesem
Muster durchaus unebener und doch vernichtender Kritik ausspricht. Auch
hier geht er zunächst vom musikalischen Standpunkte aus, erweist nach Schil¬
derung des Wesens der musikalischen Kunst die Versündigung gegen dasselbe,
„wenn man fordert, daß sie aufgeben soll, wonach sie ihrer Natur nach streben
muß, die ausführliche reiche Darstellung der Empfindung in ihrem Bleiben
und Beharren." Er würde aber seinen Erweis nicht für vollkommen erachtet
haben, wenn er nicht dem gleichen Probleme in den andern Künsten nach¬
geforscht, nicht seine Berechtigung auf einen allgemeinen Boden gestellt hätte.


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[0213] begriff er auch ihre Grenzen und ihren Gegensatz zu den benachbarten Kunst¬ gebieten, war er sich auch der Eigenthümlichkeiten der letzteren bewußt, blieb ihm die Natur der Kunst überhaupt, der Vorgang des künstlerischen Schaffens nicht verborgen. Einsichtsvoll, mit wahrer Weihe schildert er bei Gelegenheit, wo er von Mozart's Weise zu produciren erzählt, dieselben: „Das bezeichnet die Werke schöpferischer Naturen als solche, daß auch in demjenigen, was nur als die Erfüllung eines gebotenen Gesetzes erscheint, sich die Freiheit einer selbständigen Individualität offenbart. Sowie jede Erscheinung die indivi¬ duelle Darstellung des allgemeinen Gesetzes ist, so trägt die Seele des schaffen¬ den Künstlers dieses allgemeine Gesetz des Hervorbringens in sich, nicht als ein erkanntes, angelerntes, sondern als ein eingeborenes, von seiner indivi¬ duellen Natur ganz durchdrungenes und nur durch diese wirksames: seine Individualität ist das Medium, durch welches jenes Gesetz lebendig und pro- ductiv wird. Wahrheit, welche allein der Ausfluß der ewigen Naturgesetze sein kann, und Freiheit, welche das Wesen der Individualität ausmacht, sind in seinen Schöpfungen unlösbar verschmolzen." „Das ist das eigentliche Arbeiten des Künstlers," fährt er fort, „wenn er alle geistigen Kräfte im freien Spiel sich entfalten läßt, um sie auf den einen Punkt hin zu concentriren und nie die einzelne Kraft allein und einseitig anzuspannen, sondern alle gemeinsam dem gemeinsamen Ziele zuzulenken. Diese Thätigkeit in jedem Moment als den Ausfluß der vollendeten Kraft und Gesundheit der gesammten Organisation zu empfinden ist nur dem Künstler verliehen; es ist sein höchster Genuß, eine wahre Beseligung, wie ja in allem menschlichen Thun die That die höchste Befriedigung gewährt und nicht ihr Werk. Wäre es möglich, den Bewegungen der künstlerischen Natur im Schaffen mit geistigem Auge zu folgen, wie das leibliche Auge den Bewegungen eines schönen, kräftigen, ausgebildeten Körpers mit Entzücken nachgeht, ein solcher Genuß würde den weit überbieten, welchen das Auffassen des fertigen Kunstwerks ge¬ währen kann." Nicht minder durchdacht, unwiderlegt und unwiderleglich ist Jahn's Urtheil über die Stellung der Musik zur Poesie, welches er sowohl in seinem Mozart, wie in der köstlichen Abhandlung über Wagners Lohengrin, diesem Muster durchaus unebener und doch vernichtender Kritik ausspricht. Auch hier geht er zunächst vom musikalischen Standpunkte aus, erweist nach Schil¬ derung des Wesens der musikalischen Kunst die Versündigung gegen dasselbe, „wenn man fordert, daß sie aufgeben soll, wonach sie ihrer Natur nach streben muß, die ausführliche reiche Darstellung der Empfindung in ihrem Bleiben und Beharren." Er würde aber seinen Erweis nicht für vollkommen erachtet haben, wenn er nicht dem gleichen Probleme in den andern Künsten nach¬ geforscht, nicht seine Berechtigung auf einen allgemeinen Boden gestellt hätte.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_121754/213>, abgerufen am 24.08.2024.