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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. II. Band.

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Dieser Sieg der Vernunft über die Eitelkeit patriotischer Theaterhelden will
um so mehr bedeuten, als die Erregung der französischen Gesellschaft sich
keineswegs gelegt hat, und die "Unversöhnlichen" ihr Möglichstes thun, um
die Massen in eine grundfalsche Anschauung der Lage zu wiegen, welche die
Frucht der letzten Wochen ist, und wesentlich auf die momentane Ratlosig¬
keit zurückgeführt werden muß, in welcher die Regierung sich während der
Krankheit des Kaisers befand. Wenn man das Manifest der Linken liest,
so sollte man meinen, die Macht des zweiten Kaiserreichs sei bereits gebrochen
und es hänge lediglich von dem guten Willen und der Selbstbeschränkung
der Opposition ab, die Tage desselben zu fristen und die siegreiche Volks-
souveränetät mit der Napoleonischen Dynastie zu versöhnen. Es ist wahr,
der Abfall von dem System, welches Frankreich zwei Decennien lang be¬
herrschte, hat seit dem Mai d. I. reißende Fortschritte gemacht und der
Credit des persönlichen Regiments ist zu heftig erschüttert, als daß dasselbe
auf eine unveränderte Fortdauer rechnen könnte. Die Regierung selbst hat
diesen Umschlag durch eine veränderte Haltung deutlich anerkannt. Trotz der
an die Straßenecken gehefteten Bekanntmachung, welche das Volk von Paris
an die polizeiliche Befugniß zur Vertagung öffentlicher Versammlungen er¬
innerte, hat der Seinepräfect es nicht für rathsam gehalten, dem bereits
wiederholt gemißbrauchten Versammlungsrecht zu nahe zu treten und die
französische Presse genießt einer Freiheit, die nicht nur zu dem strengen Re¬
giment der letzten Jahre in merkwürdigem Gegensatz steht, sondern an die
Zeiten Louis Philipps erinnert. Die Regierung zeigt die entschiedene Absicht,
einem Conflikte mit der öffentlichen Meinung der Hauptstadt, so weit es die
Rücksicht auf ihre Autorität und Sicherheit irgend zuläßt, aus dem Wege zu
gehen und sich in die veränderten Verhältnisse zu schicken. Aber bei dem ersten
Attentat, das auf ihre Sicherheit unternommen wird, wird und kann die Re¬
gierung den Parisern alle Zweifel daran benehmen, wer Herr im Lande ist, und
nach dem, was bis jetzt vorliegt, kann sie annehmen, daß das Land zu ihr
stehen werde. Die straffe Organisation der Pariser Polizei ist noch ungebrochen
und die Hausmann'sche Bauthätigkeit hat dafür gesorgt, daß jeder Versuch zu
einem bewaffneten Aufstande in der Geburt erstickt werden kann. Ueber diese
Sachlage kann sich höchstens die Unzurechnungsfähigkeit der Bancel und
Gambetta täuschen, die gemäßigten Liberalen haben bis jetzt mit ihr zu rechnen
gewußt und aus dieser Rücksicht eine Mäßigung bewiesen, die weder in den
Traditionen noch in dem Charakter der französischen Demokratie begründet
ist. -- Trotzdem, daß die Wahlen auch außerhalb der großen Städte zum
großen Theil gegen die Regierung, d. h. gegen das Rouher'sche System aus¬
gefallen sind, wiegt für die ländliche Bevölkerung und die Bourgeoisie die


Grenzboten IV. 1869. 25

Dieser Sieg der Vernunft über die Eitelkeit patriotischer Theaterhelden will
um so mehr bedeuten, als die Erregung der französischen Gesellschaft sich
keineswegs gelegt hat, und die „Unversöhnlichen" ihr Möglichstes thun, um
die Massen in eine grundfalsche Anschauung der Lage zu wiegen, welche die
Frucht der letzten Wochen ist, und wesentlich auf die momentane Ratlosig¬
keit zurückgeführt werden muß, in welcher die Regierung sich während der
Krankheit des Kaisers befand. Wenn man das Manifest der Linken liest,
so sollte man meinen, die Macht des zweiten Kaiserreichs sei bereits gebrochen
und es hänge lediglich von dem guten Willen und der Selbstbeschränkung
der Opposition ab, die Tage desselben zu fristen und die siegreiche Volks-
souveränetät mit der Napoleonischen Dynastie zu versöhnen. Es ist wahr,
der Abfall von dem System, welches Frankreich zwei Decennien lang be¬
herrschte, hat seit dem Mai d. I. reißende Fortschritte gemacht und der
Credit des persönlichen Regiments ist zu heftig erschüttert, als daß dasselbe
auf eine unveränderte Fortdauer rechnen könnte. Die Regierung selbst hat
diesen Umschlag durch eine veränderte Haltung deutlich anerkannt. Trotz der
an die Straßenecken gehefteten Bekanntmachung, welche das Volk von Paris
an die polizeiliche Befugniß zur Vertagung öffentlicher Versammlungen er¬
innerte, hat der Seinepräfect es nicht für rathsam gehalten, dem bereits
wiederholt gemißbrauchten Versammlungsrecht zu nahe zu treten und die
französische Presse genießt einer Freiheit, die nicht nur zu dem strengen Re¬
giment der letzten Jahre in merkwürdigem Gegensatz steht, sondern an die
Zeiten Louis Philipps erinnert. Die Regierung zeigt die entschiedene Absicht,
einem Conflikte mit der öffentlichen Meinung der Hauptstadt, so weit es die
Rücksicht auf ihre Autorität und Sicherheit irgend zuläßt, aus dem Wege zu
gehen und sich in die veränderten Verhältnisse zu schicken. Aber bei dem ersten
Attentat, das auf ihre Sicherheit unternommen wird, wird und kann die Re¬
gierung den Parisern alle Zweifel daran benehmen, wer Herr im Lande ist, und
nach dem, was bis jetzt vorliegt, kann sie annehmen, daß das Land zu ihr
stehen werde. Die straffe Organisation der Pariser Polizei ist noch ungebrochen
und die Hausmann'sche Bauthätigkeit hat dafür gesorgt, daß jeder Versuch zu
einem bewaffneten Aufstande in der Geburt erstickt werden kann. Ueber diese
Sachlage kann sich höchstens die Unzurechnungsfähigkeit der Bancel und
Gambetta täuschen, die gemäßigten Liberalen haben bis jetzt mit ihr zu rechnen
gewußt und aus dieser Rücksicht eine Mäßigung bewiesen, die weder in den
Traditionen noch in dem Charakter der französischen Demokratie begründet
ist. — Trotzdem, daß die Wahlen auch außerhalb der großen Städte zum
großen Theil gegen die Regierung, d. h. gegen das Rouher'sche System aus¬
gefallen sind, wiegt für die ländliche Bevölkerung und die Bourgeoisie die


Grenzboten IV. 1869. 25
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[0201] Dieser Sieg der Vernunft über die Eitelkeit patriotischer Theaterhelden will um so mehr bedeuten, als die Erregung der französischen Gesellschaft sich keineswegs gelegt hat, und die „Unversöhnlichen" ihr Möglichstes thun, um die Massen in eine grundfalsche Anschauung der Lage zu wiegen, welche die Frucht der letzten Wochen ist, und wesentlich auf die momentane Ratlosig¬ keit zurückgeführt werden muß, in welcher die Regierung sich während der Krankheit des Kaisers befand. Wenn man das Manifest der Linken liest, so sollte man meinen, die Macht des zweiten Kaiserreichs sei bereits gebrochen und es hänge lediglich von dem guten Willen und der Selbstbeschränkung der Opposition ab, die Tage desselben zu fristen und die siegreiche Volks- souveränetät mit der Napoleonischen Dynastie zu versöhnen. Es ist wahr, der Abfall von dem System, welches Frankreich zwei Decennien lang be¬ herrschte, hat seit dem Mai d. I. reißende Fortschritte gemacht und der Credit des persönlichen Regiments ist zu heftig erschüttert, als daß dasselbe auf eine unveränderte Fortdauer rechnen könnte. Die Regierung selbst hat diesen Umschlag durch eine veränderte Haltung deutlich anerkannt. Trotz der an die Straßenecken gehefteten Bekanntmachung, welche das Volk von Paris an die polizeiliche Befugniß zur Vertagung öffentlicher Versammlungen er¬ innerte, hat der Seinepräfect es nicht für rathsam gehalten, dem bereits wiederholt gemißbrauchten Versammlungsrecht zu nahe zu treten und die französische Presse genießt einer Freiheit, die nicht nur zu dem strengen Re¬ giment der letzten Jahre in merkwürdigem Gegensatz steht, sondern an die Zeiten Louis Philipps erinnert. Die Regierung zeigt die entschiedene Absicht, einem Conflikte mit der öffentlichen Meinung der Hauptstadt, so weit es die Rücksicht auf ihre Autorität und Sicherheit irgend zuläßt, aus dem Wege zu gehen und sich in die veränderten Verhältnisse zu schicken. Aber bei dem ersten Attentat, das auf ihre Sicherheit unternommen wird, wird und kann die Re¬ gierung den Parisern alle Zweifel daran benehmen, wer Herr im Lande ist, und nach dem, was bis jetzt vorliegt, kann sie annehmen, daß das Land zu ihr stehen werde. Die straffe Organisation der Pariser Polizei ist noch ungebrochen und die Hausmann'sche Bauthätigkeit hat dafür gesorgt, daß jeder Versuch zu einem bewaffneten Aufstande in der Geburt erstickt werden kann. Ueber diese Sachlage kann sich höchstens die Unzurechnungsfähigkeit der Bancel und Gambetta täuschen, die gemäßigten Liberalen haben bis jetzt mit ihr zu rechnen gewußt und aus dieser Rücksicht eine Mäßigung bewiesen, die weder in den Traditionen noch in dem Charakter der französischen Demokratie begründet ist. — Trotzdem, daß die Wahlen auch außerhalb der großen Städte zum großen Theil gegen die Regierung, d. h. gegen das Rouher'sche System aus¬ gefallen sind, wiegt für die ländliche Bevölkerung und die Bourgeoisie die Grenzboten IV. 1869. 25

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_121754/201>, abgerufen am 22.07.2024.